Rezensionen Kontrast

RR
Entfremdung in einer Ehe durch Digitales, ein mitreißender Roman!

Rezension aus Deutschland vom 7. März 2022

„Sie beobachtet, wie er am Verschluss der Mineralwasserflasche dreht, dabei mit herunterbaumelnder Hand nur die Fingerkuppen benutzt, noch eine Weile weiterdreht, obwohl keine Windung mehr am Glas sein kann, in die der Verschluss einrasten könnte. Er setzt die Flasche schwungvoll auf das Glas, statt sie in der Luft schweben zu lassen, so dass es in ihren Ohren klirrt. Schließlich trinkt er mit lauten Schluckgeräuschen. Sie überlegt, ob das alles schon immer so war oder ob er sich das erst in letzter Zeit angewöhnt hat. Als sie ihm sagt, dass der Kater seit zwei Tagen nichts gefressen habe und krank sein müsse, zuckt er nur mit den Schultern.“

Schon der Anfang des Romans macht die Entfremdung in dieser Ehe deutlich. Ricarda weiß nicht, ob sie ihren Mann überhaupt kennt. Sie hält ihn für einen Tierhasser. Mehr noch, sie glaubt, dass er alles Lebendige hasst. Er vergräbt sich in der untersten Etage ihres Hauses und lebt nur in den Computerspielen, die er sich ausdenkt. Ricarda ist auf dem Weg zu ihrem Orthopäden, der ihr sagt, dass sie mit 70 nicht über die Stränge schlagen solle. Sie solle zum Beispiel nicht mehr die Pisten im Skigebiet hinunterfahren. Ricarda aber will das Leben genießen. Sie ist eine Draufgängerin und will das Leben mit allen Sinnen auskosten, auch in Bezug auf die Liebe. Ihr wird mehr und mehr klar, dass sie sich von ihrem Mann Eric trennen muss.
Ab und zu denkt sie an die Erlebnisse mit Filippo, den sie in Italien kennenlernte und mit dem sie rasante Motorradfahrten in die Berge unternahm und Paragliding machte. Er war das ganze Gegenteil ihres Mannes. Zudem wohnt er in Hamburg, der Stadt, die sie liebt und die sie Erics wegen verlassen musste. Wird sie sich für Hamburg und sogar für Filippo entscheiden?
Neben der Leidenschaft für alles Lebendige, gibt es bei Ricarda zudem den Hang, sich geistig in wichtige Themen zu vertiefen. So besucht sich eine Vorlesung über Heinrich Heine. Dort entdeckt sie das Prophetische seiner Erkenntnisse in Bezug auf die heutige digitale Welt. Im Gegensatz zu Eric fühlt sich Ricarda der analogen Welt zugehörig, obwohl sie alle Vorzüge des Digitalen nutzt.

Das alles hat eine große Spannung, sodass man den Roman nur schwer aus der Hand legt.
Der Stil, in dem der Text geschrieben ist, beeindruckt durch seine Eigenwilligkeit und Kreativität. Er entspricht in verblüffender Weise den jeweiligen Situationen.

Unbedingt lesenswert!

Marie
Eine sinnenhafte Sprache, die zusammen mit einer spannenden Geschichte einen Sog entfaltet

Rezension aus Deutschland vom 6. März 2022

Der Titel des Romans „Kontrast“ ist hier Programm. Die Eheleute Ricarda und Eric leben in zwei verschiedenen Welten:
Eric, der Entwickler von Computerspielen, hält sich vor allem im abgedunkelten Erdgeschoss eines restaurierten Industriegebäudes auf. Mittels eines alten Aufzugs schickt Ricarda ihm u.a. Müsli hinunter mit kleinen Zettelchen, also ganz analog. Eric ist nicht nur räumlich weit entfernt von seiner Frau. Er lebt in der digitalen Welt und versucht, seine Ehefrau immer wieder zu digitalem Sex zu überreden, indem er im vollautomatisierten Haus Bilder an die Wand des Badezimmers werfen lässt oder sie auf andere Weise dazu auffordert.

Ricarda, aus deren Sicht erzählt wird, war die unterschiedliche Lebenseinstellung bisher nicht bewusst. Sie spielte früher auch keine Rolle, denn die beiden waren sich körperlich sehr nah:
„Ein Zustand, der alles Trennende zwischen ihnen mit einem Schlag überwand und der sich Stunden und Tage nach ihrem Zusammenkommen fortpflanzte, sie trug Eric in sich wie ein Baby und sie wusste, dass es ihm genauso erging. Tag und Nacht war sie in ihm, bis jenes Empfinden abflaute und der Erneuerung bedurfte. Ich verliere dich, sagte er, oder: Du musst durch meine Haut.“ Inzwischen jedoch hat sich Eric verändert. Selbst bei analogem Sex ist er ein anderer als früher und Ricarda fragt sich:
„Wann hat Eric mit seinem komischen Getue, diesem Konstrukteurs-Gehabe angefangen, das er doch in Wirklichkeit viel lieber seinen Spielen zugutekommen lässt? Und wann hat sie angefangen, es zu hassen?“
Immer wieder versucht Ricarda, ihren Mann auf die frühere Ebene der Intimität zurückzuholen, was nicht gelingt. Sie erinnert sich an einen Mann namens Filippo, dem sie in Italien am Lago di Garda begegnete. Diese Erinnerungen an einen ausschweifenden Gebrauch der Sinne gegenüber dem Meer, der Natur und einem leidenschaftlichen Mann durchziehen den Roman, wobei es hinsichtlich Filippos „Leidenschaft“ doch eine Überraschung gibt. Während der Rückwendungen beschließt Ricarda, sich von ihrem Mann zu trennen. Der Ausgang des Romans soll hier nicht verraten werden.

Der Roman beschränkt sich nicht auf das Thema „Liebe“ und „Sexualität“. Ricarda besucht in der Universität Vorlesungen eines Professors, der das Buch: „Heinrich Heine – Der Dichter der Modernität“ geschrieben hat: „U.a. bezeichnet der Begriff der Modernität jene schmerzhaften Verlusterfahrungen, die die Menschen im Sog beschleunigter Untergänge ihrer Lebenswelten machen mussten … Zu beschreiben aber sind die neuen Maschinen und Medien nicht bloß als neue Vehikel und Instrumente, sondern als Artefakte, mit denen ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit etabliert wird.“ (Götz Großklaus)
Ricarda begreift die Parallelität der damaligen und jetzigen Ereignisse: „Doch während sie dem Professor lauscht und ins Schwärmen gerät über die neue Welt der digitalen Medien, schleicht sich ein Verdacht ein, der sie Schaudern macht: Der eigentliche Einbruch und der Schmerz des Verlusts stehen uns noch bevor. Wir sind längst dabei, mittels der modernen Instrumente jenes neue Verhältnis zur Wirklichkeit zu etablieren, von dem der Professor spricht. In einer Weise, die noch tiefer und weiter greift und sowohl nach innen als auch nach außen wirkt, indem sie unsere Gehirnstrukturen und unsere Umgebung radikal verändert. Und irgendwann wird sich jene Modernität zu einer gläsernen manipulierbaren Welt ausgeweitet haben, die den in Nineteen Eighty-Four von George Orwell ausgemalten Überwachungsstaat noch übertrifft.
Irgendwann? Das neue Verhältnis zur Wirklichkeit und die Veränderung der Umgebung sind keine Utopie, sondern bereits da. Eric, der Spiele-Erfinder, steckt mittendrin in dieser neuen Welt und versucht, sie hinüberzuziehen.“

Neben dieser Erweiterung des Privaten zu einer globalen Sicht spielen im Roman andere Personen und ihre Probleme eine wichtige Rolle (eine enge Freundin, die Tochter Ricardas, ihre Enkelin, ein befreundetes Ehepaar), außerdem ihr früherer Beruf als Lehrerin, worauf hier nicht eingegangen werden kann.

Die Sprache des Romans kann es bei aller Klarheit hinsichtlich Sinnenhaftigkeit mit der des Sujets aufnehmen. Phil Mira hat einen Stil, der einen besonderen Wiedererkennungswert besitzt. Sie entfaltet, zusammen mit ihrem fesselnden Gegenstand, einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann.