kpoac
Das Universum ist unendlich suggestiv. (Barthes)
Rezension aus Deutschland vom 24. Mai 2020
„Der Mythos vergreift sich nicht allein an den unschuldigen Buchstaben, die sich erst im Zusammenhang zu dem formieren, was sie lebendig macht, dieses Überschäumen in ihr hervorruft, sondern an ihr selbst. Es funktioniert, je länger es dauert, auch in der anderen Richtung, sie bleibt nach randvollem Auffüllen leer zurück und verlangt Neues, wieder und wieder, wird lechzend, gefräßig wie ein rastloses Tier.“
Phil Mira
Sprache braucht besondere Bedingungen, um Mythos zu werden; schrieb Roland Barthes in seinen »Mythen des Alltags«. Was uns in diesem Alltag begegnet, sind die Dinge, die Bedeuten und die bedeuteten Dinge. Wir reden also über ein Mitteilungssystem, über eine Zeichensprache – also über eine Form. Alles, wovon ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann, kann auch Mythos werden. So gesehen – mit Barthes im Gepäck – scheint dieser Roman von Phil Mira eine Mitteilung zu sein, die Mythos ist, als Wirklichkeit dargestellt und doch irreal.
Geschickt, und das ist diese Stärke im Roman, wird nun Erzählung verknüpft mit Wissenschaft, und zwar die Wissenschaft der Semiotik, der Kognitionspsychologie und der Lernenden und Lehrenden darin.
Ina, die Protagonistin und Erzählerin ist Mutter, Ehefrau und arbeitet in einer Buchhandlung. Ihr Mann ist Professor für Semiotik, an seiner Seite eine attraktive Doktorandin, die im engen Austausch mit ihrem Mentor gewisse Eifersüchteleien bei Ina befeuert. Ina ihrerseits, intelligent und von schneller Auffassungsgabe, widmet sich im Selbststudium der Sache und gewinnt hinreichend tiefen Einblick, um den Diskussionen zu folgen, gar die Sachverhalte aufzuklären. So lernt der Leser, sofern er gewillt ist, sich einzulassen in die Materie, zu unterscheiden zwischen Signifikat und Signifikant, zwischen Denotation und Konnotation und überhaupt gewinnt er einen Einblick in die Welt der Zeichen.
Er wird sehr bewegt zwischen dem buchstäblichen Sinn und einer zweiten Sinnebene, und beide erscheinen Sinn verstörend ineinander zufallen, da eine gewisse Sinnlichkeit durch erotische Berührung erzählerisch „worttrunken“ macht. Und hier sind wir bei der zweiten Seite des Romans.
Angeregt durch die Zweisamkeit des Lernens zwischen Professor (ihrem Mann) und der Doktorandin lässt sie sich auf einen mail-Kontakt eines alten Jugendfreundes ein, der ähnlich wie in Nordwind zu einer erotischen Zeichensprache sich entwickelt und den Alltag illusorisch angeregt in eine bisher nicht gekannte Aufmerksamkeitslücke führt. Ihr neues Leben wird nun geprägt von einer Sehnsucht nach neuen Zeichen, in der mail-Sprache des „Lyrikliebhabers“ erzeugt eine verbale Erotik enormen Druck zur Wiederholung. Nicht ohne Grund entführt Phil Mira den Schulfreund Inas aus dem Shakespeare Stück Othello und nennt ihn Jago.
Ein Treffen in Hamburg soll den Wünschen Realität geben, doch es misslingt. Ihre andere Sehnsucht, zu wissen, was ihr Mann und sein „Mädel“ wissen, führt durch das Selbststudium zur Wissenden in Gleichwertigkeit. Die Doktorandin erkennt, der vermeintliche Wettbewerb erlischt und Ina ist hilfreich in einer Problemlösung. Oder wie Barthes sagt: die Wissenschaft muss vom Leben sprechen, wenn sie verwandeln will.
Die Dinge wenden sich zum Guten, denn eine neue Gelegenheit eines Treffens mit Jago bietet sich. Endlich gelingt das Treffen, die Beschreibung des Hergangs ist bravourös und folgt – so meint der Rezensent – dem Barthesschen Schema zum Lesen und Entziffern eines Mythos, dem Barthes drei verschiedene Arten des Lesens unterstellt. So wie er sagt, dass der Mythos deformiert, so wird Phil Mira ihre Ina in eine Abwandlung des Gewünschten, Ersehnten führen. Der Leser erfährt das Erlebnis als Faktenbeschreibung, und doch scheint es nur ein semiologisches System zu sein, in dem aufgrund der Kontingenz auch alles anders sein könnte.
Lesenswert. Sehr sogar.
kingofmusic
Wenn die Phantasie die Realität überholt
Rezension aus Deutschland vom 31. August 2021
Es ist und bleibt interessant, wie viele talentierte Autorinnen und Autoren, die (noch) keinem breiten Publikum bekannt sind (die es aber zweifellos verdient haben!) sich in den sozialen Netzwerken tummeln und die man sonst wohl verpasst hätte. Eine davon hört auf den Namen Phil Mira und hat bereits drei Romane veröffentlicht. „Worttrunken“ ist mein Erst-, aber nicht Letztkontakt (immerhin liegen die beiden anderen Romane „Kontrast“ und „Bloßlegung“ auch schon hier *g*) und hat mich damit direkt von den Socken gehauen.
Ich bin regelrecht versunken in einem Meer aus Worten, aus Lyrik, aus Sinnlichkeit – als ich das Buch nach der letzten Seite zugeklappt hatte, musste ich erst mal wieder nach oben „tauchen“ und mich ausruhen :-). Ja ja, ihr kennt meinen Hang zur Dramatik und gelegentlichen Übertreibung, aber ich schwöre, so (oder zumindest so ähnlich) war es!
Dabei hört sich die Story zunächst „unspektakulär“ an: Frau in mittleren Jahren mit Mann, Kind und Halbtagsjob trifft Jugendfreund wieder, beginnt eine (leidenschaftliche?) Affäre und stellt sich im Zuge dessen die Frage „Bin ich glücklich mit mir, meinem (Liebes-)Leben?“. Doch ganz so leicht macht es Phil Mira der geneigten Leserschaft nicht. Im Gegenteil: wenn man als Leser glaubt, jetzt weiß man wo der Hase langläuft, schlägt er einen Haken und man fängt wieder an zu suchen; das ändert sich auch nicht bis zum Ende. Aber soll ich euch was sagen? Das ist gut so, macht Spaß und diesen Roman umso unberechenbarer!
Phil Mira ist eine Akrobatin der Worte; sie balanciert mit ihnen ohne sie unterwegs zu verlieren, reiht munter wissenschaftliche Passagen über Semiotik (Zeichentheorie) an Lyrik und eindeutig explizite Abschnitte ohne bei Letzterem in die „Schmuddelecke“ abzudriften. Soll heißen: natürlich geht es (auch) um Sex, um die Leidenschaft, die Lust, die Mann und Frau dabei empfindet (oder auch nicht). Allerdings macht es schon beim Lesen einen Unterschied, ob es in zärtlich-sinnlichen Wortspielereien oder in härterer Tonart geschrieben steht. In Zeiten, in denen der Tonfall (untereinander) sowieso zuweilen ziemlich hart und verroht ist, sind die zarten Worte Phil Mira’s eine gelungene und wohltuende Oase, in die man sich als Leser „fallen lassen“ kann. Das Einzige, woran man sich (vielleicht) gewöhnen muss, ist die konsequente Nicht-Kennzeichnung wörtlicher Rede. Aber für geübte Leserinnen und Leser, die Autoren wie z. B. Kent Haruf lesen, stellt das keine Hürde da bzw. sollte keine darstellen.
Das letzte Kapitel wartet dann mit einer (für mich) faustdicken Überraschung auf und hat das Kopfkino noch eine Zeitlang weiterlaufen lassen; dazu trägt auch das (offene?) Ende bei.
Ich kann eigentlich gar nicht mehr zu diesem Roman schreiben, außer, dass ich verdammt froh bin, ihn gelesen zu haben!
Von mir gibt’s ganz klar 5* und eine absolute Leseempfehlung!
RR
Rezension aus Deutschland vom 28. August 2021
Bei diesem Roman geht es um ein Thema, das mich sofort angesprochen hat: Wie kann körperliche Nähe allein durch Worte hergestellt werden und das zwischen Menschen, die sich kaum kennen? Es passiert ständig im Netz, aber in diesem Roman geschieht es in exzessiver, manchmal fast schmerzhafter Weise. Quälend ist für Ina, die Protagonistin, vor allem das Warten, das Überbrücken des Alltags, bis sie sich wieder den Worten Jagos, des Jugendfreundes, widmen kann. Eigentlich liebt Ina ihre Tochter, ihren Mann, ihre Arbeit, aber je öfter die erotischen Mails zwischen ihrem Jugendfreund und ihr hin- und herfliegen, desto mehr entwickelt sie eine Art Sucht nach jener „Worttrunkenheit“. Denn nur durch die Erotik und dadurch, dass sie sich durch die Worte Jagos begehrt wähnt (etwas, das ihr der langjährige Ehemann nicht mehr vermittelt), fühlt sie sich lebendig. Fast verzweifelt versucht Ina, sich von ihrer Sucht zu befreien. Und auch, wenn es zeitweise gelingt, ist es doch niemals von Dauer. Dabei beschäftigt sie neben der Frage, wann die nächste Mail eintreffen wird, die Frage, wann endlich alle ersehnten Details in die Tat umgesetzt werden können. Die Gelegenheit bietet sich unerwartet, als ihre Mutter für eine Woche in den Urlaub fährt.
Die Struktur des Romans mit ihrem Wechsel zwischen den Mails, den Vorstellungen der Protagonistin und der Realität mit ihren Orten Heimatort, Wohnung, Buchhandlung, Italien, Alpen und Hamburg bietet eine enorme Spannung und wirkt wie aus einem Guss.
Die Sprache des Romans ist faszinierend. Beschreiben kann man sie nicht, man muss sie gelesen haben!