Rezensionen Bloßlegung

Birgit
Weißt Du, was Ohnmacht ist?

Rezension aus Deutschland vom 10. März 2020

Die Gewalt. Das Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen. Die Unmöglichkeit, die Wahrheit preiszugeben. Darum geht es in diesem Roman. Nicht darum, welches Geschlecht vergewaltigt werden kann und welche Vergewaltigung besonders schlimm ist oder weniger schlimm. Es geht um das Bloßlegen einer menschlichen Seele und deren Schändung. Warum? Die Motive der Tat bleiben im Hintergrund. Es lässt sich nur mutmaßen – Macht, Schmerz, Verlustangst. Ebenso ließe sich anzweifeln, ob derartiges überhaupt passieren könnte. Genau so. Mit diesen Charakteren, wie sie vorgestellt werden. Es spielt keine Rolle. Denn dieses Buch klagt nicht an. Es entschuldigt auch nicht. Es erzählt. Mit einer, wie ich es empfinde, wunderbaren Sprache, einem stimmigen Tempo und in szenisch gekonnt pointierter Weise. Dabei ist es viel mehr als ein Roman über Vergewaltigung. Es erzählt von Familie, von Freundschaft, von Träumen, und vom Umgang mit Ohnmacht. Denn von Anfang an will man Tamino in den Arm nehmen und ihn genau hiervon befreien. Von dieser Ohnmacht. Danke für dieses Buch.

L. Singer
Kunst 🤝 Handwerk

Rezension aus Deutschland vom 22. August 2021

Ich habe Bloßlegung von Phil Mira in wenigen Tagen verschlungen, musste aber immer wieder Pausen einlegen, um das Gelesene zu verarbeiten — so kraftvoll sind diese Bilder, Atmosphären, Skizzen von Menschen. Ein paar Gedanken zum Buch:
– Schon nach den ersten paar Seiten mochte ich diese Menschen — Tamino und seine Familie. Wie macht Mira das? Ich habe eine vage Ahnung, aber kann sie nicht in Worte fassen. Großartiges Handwerk.
– Die Darstellung der inneren Vorgänge im Kopf eines Mannes, der weniger dominant ist, als das aktuell vorherrschende Rollenbild es vorgibt, empfinde ich als sehr stimmig. Es war eigentümlich befriedigend, sie zu lesen.
– Als Mann denke ich dann gleichzeitig immer wieder: gefällt mir das alles nur deshalb so gut, weil es für eine bestimmte Art der Male Gaze geschrieben ist, die mir entspricht?
– Wenn man die Geschlechter von Paula und Tamino umkehren würde, ergäbe es wohl ebenfalls eine sehr glaubwürdige Beschreibung gesellschaftlicher Umstände. Dann aber gefiel mir sehr gut, dass immer wieder — nicht nur, aber insbesondere nach der Tat — doch auf die spezielle männliche Sicht eingegangen wird: seine Zweifel, seine Ängste. Man könnte es also spiegeln, aber auch nicht so richtig. Dass es so ist, empfinde ich als sehr gelungen.
– Vor Allem die Folgen der Tat sind ein intensiver Schlag in den Magen — vielmehr als die Tat selbst. Es tut weh und schockiert und ist schlimm zu lesen, aber dadurch ist es auch sehr, sehr gut.
– Bis zur letzten Seite war ich mir sicher, dass sich das Ganze auf keinen Fall irgendwie befriedigend auflösen kann. Wie es dann durch ein paar scheinbar leicht geführte Pinselstriche doch noch zu einem gelungenen Ende wird, ist emotional schön und handwerklich bewundernswert.
Alles in Allem für mich ein schöner Traum und ein Höllenritt in Einem. Große Kunst. Ich bin seit Jahren nicht mehr so stark von einem Buch berührt worden, und das ist zumindest für mich ein wichtiger Grund, weshalb ich lese und schreibe. Um andere zu berühren und berührt zu werden.

RR
Eine ungewöhnliche Geschichte außergewöhnlich erzählt!

Rezension aus Deutschland vom 28. August 2021

Ein Thema, das mich als Frau wenig interessierte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich dieser Roman länger begeistern könnte. Doch genau das ist passiert. Auf Youtube habe ich ein Video über das Buch gesehen und schon da war ich von diesem besonderen Blick auf Menschen und Situationen beeindruckt, vor allem aber von der besonderen Sprache.
Inhaltlich steht der Roman irgendwo zwischen Houellebecqs „Elementarteilchen“ und Édouard Louis‘ „Im Herzen der Gewalt“. Ähnlich wie im Roman „Elementarteilchen“ sind Erkenntnisse der Wissenschaft mit dem Text verflochten. Taminos Wissen über Gedächtnispsychologie ist eng verknüpft mit seinem Bemühen, sich zu erinnern, mit seinen Zweifeln, ob seine Erlebnisse entsprechend der Wirklichkeit gespeichert wurden. Auch in Édouard Louis‘ autobiographischem Roman geht er um die Vergewaltigung eines Mannes, allerdings durch einen Mann. Aber während dort die Gewalttat und die Folgen holzschnittartig geschildert werden, wird bei Phil Mira alles in seiner Komplexität und seiner Entsetzlichkeit beschrieben, wodurch es glaubwürdiger ist, wenn auch kaum auszuhalten.
Dazu gesellt sich eine ganz eigene Sprache, der man sich nicht entziehen kann. Ihre Eigenart ändert sich nicht, aber sie passt sich an. Im armseligen Zimmer zu Beginn und am Ende, als Tamino sein Leben beenden will, ist sie schlicht und direkt, während des Ostseeurlaubs und während der Zeit zu Hause in Hamburg ist sie heiter, humorvoll, übersprudelnd. Tamino trifft keine Schuld an der Vergewaltigung, allerdings lässt er sich nur zu gern auf kleine Fluchten ein, die aus seinem Dasein als Lehrer und Hausmann herausführen. Wie er fast sehend nach und nach in jene ausweglose Situation gerät, ist spannend und gleichzeitig bedrückend.
Die Folgen der Tat, die vor allem seelische Spuren hinterlassen hat, sind für Tamino schrecklich und gut nachzuvollziehen. Gerade dadurch, dass die Vergewaltigung einerseits identisch mit dem ist, was Frauen erleben müssen, andererseits von einem Mann durch seine männliche Identität ganz anders empfunden wird, macht diesen Roman interessant. Und wie das alles geschildert wird, macht ihn so außergewöhnlich!