(Sendungen, Portraits und Interviews s.u. Aktuelles)
Der Roman hat in der SWR-Bestenliste Platz 1 im September erreicht.
(Die Diskussion im SWR Kultur dazu wird unter Sendungen näher ausgeführt)
Der Roman ist NDR Buch des Monats im Juni 2023.
(Dazu gab es eine wunderschöne Sendung im Kulturjournal des NDR, die vornehmlich von Yasemin Ergin gestaltet wurde und mit mir an den Romanorten in Clausthal-Zellerfeld gedreht wurde.)
Der Roman steht auf der Bücherliste der „druckfrisch“-Empfehlungen der Frankfurter Buchmesse 2023:
„Schneeflocken wie Feuer lässt sich in seiner kühlen, oft selbstironischen Sachlichkeit und seinen Fragen nach weiblicher Selbstbestimmung und weiblichem Begehren durchaus vergleichen mit den Romanen von Annie Ernaux, Colette oder Simone de Beauvoir.“
Beate Tröger, Büchermarkt/Deutschlandfunk
„Es ist ein Buch, das mich in Bann geschlagen hat, verzaubert, regelrecht in andere Sphären verschlagen. … Das ist eine Zeitreise zurück ins Deutschland des Jahres 1962, in den Harz, es ist die Geschichte einer Verführung einer Frau, die mit den Waffen einer Frau, sie ist in Wahrheit ein junges Mädchen, sich ihren Musiklehrer krallt, gleichzeitig ist es eine große Analyse, woher wir kommen, was wir hinter uns gelassen haben. … Eine hinreißende Prosa.“
Denis Scheck, WDR2 Buchtipp (Radio)
„Faszinierend ist, wie Elfi Conrad den Missbrauch von Macht ganz beiläufig am Beispiel verschiedener Instanzen analysiert und trotzdem ein zwar kühles, aber eben doch fragendes Verständnis für das Verhalten einzelner Personen aufbringt.“
Insa Wilke, Süddeutsche Zeitung
„Für ihr Erleben hat Elfi Conrad eine Sprache gefunden, die sinnliche Erfahrung stark nachvollziehbar macht, die etwas, das schwer zu beschreiben ist, sehr dicht umkreist. (…) Das erzählerische Netz, das sie erschafft, ist dicht und nimmt einen gefangen. Verführung im besten Sinn.“
Katharina Manzke, Bücher Magazin
„Eine absolute Entdeckung. Dieses Buch katapultiert einen direkt zurück in die 1960er Jahre: die Nachkriegszeit, das Aufwachsen im Schatten der Nazizeit, die in vielen Strukturen natürlich noch zu spüren war, und es geht um die Geschlechterrollen, um die Frage nach Gleichberechtigung. … Da trifft die Lebenserfahrung einer überzeugten Feministin auf eine junge unerfahrene Frau mit Lebenshunger.“
Anne-Dore Krohn, rbb Kultur
„Dieses so ehrliche wie wie kluge Buch über die Befreiung der Frauen von gesellschaftlichen Zwängen, über selbstbestimmten Sex und Körpergefühl, über Liebe und die Suche nach einem Platz im Leben gehört für mich zu den großen Entdeckungen dieses Frühjahrs.
Wer Annie Ernaux schätzt, sollte sich dieses kühne und unkonventionelle Buch nicht entgehen lassen!“ Frank Menden
„Schneeflocken wie Feuer ist so besonders, weil sich die Erzählstimme immer der Bedingungen bewusst ist, unter denen ihre Dora handelte. Sie erzählt auf eine Weise, die einen emotional direkt erreicht, aber stets zugleich reflektieren lässt. Und sie zeigt auch die Befreiung einer Frau aus den Grenzen der Erziehung.“
Cornelia Geißler, Berliner Zeitung
„Als Ich-Erzählerin des Romans verfügt Dora über eine klare, unaufgeregte, nüchterne Sprache, durch die ihren engagierten, klugen, geradezu analytischen Betrachtungen eine besondere poetische Nuance hinzufügt wird. Eine ganz außergewöhnliche Stimme.“
Blog Horatio-Bücher
„Ein autobiographischer Roman, der begeistert. Elfi Conrad erzählt von einer jungen Frau, die sich nach Selbstbestimmung sehnt. Und wie sie das macht, kann einen als Leser wirklich in den Bann ziehen.“
Denis Scheck, WDR2 Buchtipp (Online)
„Als Dora ihren Blick auf die Vergangenheit richtet, reflektiert sie ihr Handeln und vergleicht unter anderem die Verhaltensmuster der Gesellschaft und die Rechte der Frauen mit der Neuzeit. Eine Reise in die Vergangenheit, die spannend erzählt ist. Die Protagonistin wächst und steht für sich ein.“
Henrike Lehmann, ekz Bibliotheksservice
„Ein Roman, .. dem die Balance gelingt zwischen warmer Nostalgie und kritischer Selbst-Reflexion. Mit einer Heldin, die ihre Fehler macht und ihre Kämpfe durchsteht – stark und mutig.“
Juliane Bergmann, NDR
„Trotz der Ernsthaftigkeit des Sujets gelingt der Autorin der Balanceakt zwischen Unterhaltung und hoher Literatur. Sie lässt einen in bewegenden Szenen an Emotionen der Protagonistinnen und Protagonisten teilhaben und behandelt gleichzeitig Fragen, die sich heute weiterhin etwa in der Me-Too-Bewegung stellen. Dabei werden Situationen sehr fein geschildert, etwa als Dora ihren Lehrer das erste Mal zu Hause aufsucht, Hilfe bei ihm ersucht. Er lässt sie ein und kreiert eine Situation der Nähe, lässt aber doch einen gewissen Abstand, indem er ihr nur Sprudel ausschenkt.“
Max Perseke, ntv.de
„Lebenserfahrung gepaart mit einem frischen Blick auf die Welt. Das macht Elfi Conrads Roman so lesenswert.“
Yasemin Ergin, NDR Kultur, Das Journal, Fernsehbeitrag
„Das Besondere am Roman: Die fast 80-jährige Erzählerin kommentiert die Geschichte immer wieder aus der heutigen Sicht einer emanzipierten Frau. Schneeflocken wie Feuer ist unser NDR Buch des Monats.“
NDR Kultur, Das Journal
„Ihre Jugend in den 60ern und die unendlich vielen empfundenen und im Alltag erlebten Ungerechtigkeiten haben ihrer feministischen Einstellung den Weg bereitet. Doras Geschichte erklärt, wie es dazu kam. Für die Töchter und Enkelinnen dieser Frauen ist der Roman ein Schlüssel zum Verständnis ihrer Mütter und Großmütter.“
Sibylle Kranich, Badische Neueste Nachrichten
„Trotz dieser gewichtigen Themen hält Elfi Conrad die Balance zwischen Ernsthaftigkeit, Unterhaltung und anspruchsvoller Literatur. Die erzählten Szenen leben! Sie erreichen die Leserinnen und Leser emotional ganz direkt, aber sie lassen auch viel Raum zu reflektieren.“
Johanna Bonengel im Veranstaltungsheft Groschenheft
„Elfi Conrad gelingt es, diese Spannung zwischen der Erfahrung der fast 80-jährigen und der unbedarften, aber dennoch schon rebellischen 17-jährigen herzustellen.“
Elke Trost, egotrip – Onlinemagazin für Reisen, Theater, Konzert, Lesen und Hören
„Am Beispiel eines freien Falls in die Schulklassen und Beatkeller der sechziger Jahre, aus der Perspektive der alten wie der jungen Frau, scheint Phil Miras/Elfi Conrads in früheren Büchern bewiesene Fähigkeit auf, mitreißende Handlung, psychologische Analyse und Portrait einer Zeit zu verweben.“
Bodo Morshäuser
„Das ist nicht nur klug und zeitgeschichtlich erhellend, sondern auch in lauter Sätzen geschrieben, die einstechen wie Nadeln.“
Martin Lechner
„Dieser schonungslose Blick auf sich selbst! Ich konnte bis in die Nacht nicht aufhören zu lesen.“
Sarah Raich
„Radikal. Schamlos. Mehr davon!“
Katarina Hellinger
Die Rezensionen im Einzelnen:
Der Roman Schneeflocken wie Feuer wird gleich zu Beginn der Sendung druckfrisch von Denis Scheck im 1. Fernsehprogramm empfohlen; dabei werden der Kern des Romans, seine Intention und Bedeutung haargenau auf den Punkt gebracht .
Die frühe Bundesrepublik in den 60-er Jahren: Elfi Conrads Roman wirft Fragen nach sexueller Macht und dem Missbrauch dieser Macht auf, die zwar damals spielen, aber doch mitten ins Herz unserer Gegenwart führen.
„Eine fast Achtzigjährige erinnert sich anlässlich eines Klassentreffens an ihr Leben als 17-Jährige in einer Kleinstadt im Harz. An ihre Mutter, die als BDM-Führerin eine glühende Nazi-Anhängerin war. An ihren Vater, Arztsohn und glückloser Erfinder, der früh in eine Ehe gepresst wurde und nun als Spanner dem Nachbarmädchen mit dem Fernrohr nachstellt. An die dumpfe Atmosphäre der frühen 60-er in der bundesdeutschen Provinz, das unappetitliche Gebräu aus Fremdenfeindlichkeit, Obrigkeitsdenken, stockkonservativen Frauenbildern und sexueller Unterdrückung. Das Mädchen erinnert sich aber auch an das Befreiungsversprechen des Rock’n’Roll und wie sie auf den Plan verfiel, ihren jungen Musiklehrer zu verführen. „Ich war siebzehn, und ich war eine Frau.“ Mit diesem Paukenschlag von einem Satz lässt Elfi Conrad ihren Roman beginnen. „Er hatte keine Chance, mir zu entkommen.“
Was treibt die Erzählerin zu ihrer Verführung an. Handelt sie aus Rache? An wem und wofür eigentlich? „Schneeflocken wie Feuer“ ist ein herausragender Roman über Klassen- und Geschlechtergrenzen in der jungen Bundesrepublik. Über die Rebellion gegen die Zurichtungsmechanismen von Schule und Gesellschaft. Über Verantwortung und Selbstbehauptungswillen.“
Insa Wilke hat in der Süddeutschen Zeitung eine ausführliche Rezension verfasst, die den Roman in einer Weise würdigt, die mich sprachlos zurücklässt:
Elfi Conrad: „Schneeflocken wie Feuer“:
Wovon wir reden, wenn wir von Missbrauch reden
31. Juli 2023, 15:44 Uhr Lesezeit: 4 min
Elfi Conrads mitfühlender Roman über eine ungleiche Liebe und emotionale Gewalt in Familie und Schule.
Von Insa Wilke
Wer sich als Frau mühsam aus sozialer und mentaler Enge herausarbeiten musste, verfolgt durchaus mit Unbehagen eine Rhetorik im Umfeld der Metoo-Bewegung, die mit guter Absicht jungen Frauen eine selbständige Willens- und Entscheidungskraft abzusprechen scheint. Bemerkenswert dagegen dieser Satz: „Ich war siebzehn, und ich war eine Frau.“ Und es geht noch weiter: „Innerlich verfügten wir über eine ausgeklügelte Raffinesse, uns in Szene zu setzen. Und ich war in dieser Hinsicht skrupellos“, heißt es und weiter: „Er hatte keine Chance, mir zu entkommen.“
Hier fantasiert kein alternder Mann sich seine Lolita zusammen. So beginnt „Schneeflocken wie Feuer“, der Roman, mit dem die 1944 geborene Autorin Elfi Conrad gerade zum ersten Mal einer Menge Menschen auffällt. Es gibt zwar biografische Ähnlichkeiten zwischen Conrad und ihrer Erzählerin Dora – sie wuchs auch im Harz auf; sie wurde auch eine Lehrerin, die man sich selbst gewünscht hätte; sie hält offenbar auch neugierig den Kontakt zu den Jüngeren und ihren Anliegen. Wichtiger ist aber die Entscheidung, Dora auf diese Weise sprechen und auf ihr jüngeres Ich zurückschauen zu lassen. Denn der da keine Chance gegen seiner Schülerin hat, ist ihr Musiklehrer, genannt Costa, „ein zerbrechlicher, junger Mann, der keinen Sport trieb“. 29 Jahre alt und ganz anders als die anderen Lehrer ist dieser Costa, der damals schon „neidlos“ die Leistung von Frauen anerkennen kann, zum Beispiel in der Musik. Und: Er spielt in einer Rockband.
Aber es ist nicht Costa, der Dora missbraucht, sondern Dora, die Costa so lange reizt, bis der nicht mehr sagt „Don’t stand so close to me“, wie Sting es sich zwanzig Jahre später in ähnlicher Situation erbat. Im Grunde geht es in Elfi Conrads Buch aber gar nicht um diese Geschichte, die von Seiten des Mädchens nicht mal eine Liebesgeschichte ist und die endet, wie sie in der prüden und schuldbeladenen Nachkriegsgesellschaft enden musste: mit Denunziation, mit moralischer und juristischer Verurteilung, mit Entlassung.
Denken die jungen Frauen von heute „immer noch, ihr Pfund sei die sexuelle Begehrtheit?“
Dass es um etwas anderes geht, merkt man schon am Stil, der die klare Offenheit des Denkens seiner Autorin veranschaulicht und sich nicht deckt mit der autoritären und skandalisierenden Rhetorik der öffentlichen Meinung und Meinungsmache. Dora ist fähig zu zweifeln und schaut gleichzeitig mitfühlend auf die siebzehnjährige Frau, über die sie schreibt. Sie hätte „ein Automat“ sein sollen, „dazu abgerichtet, Männer zu verführen und irgendwann stopp zu sagen.“ Männer wiederum verinnerlichten durch „Filme, Plakate, Zeitschriftencover“, was ein Sexsymbol sei, schreibt Conrad und erinnert an die juristischen Echos der Popkultur: dass erst seit 1987 das Arbeitsverhältnis der Frau nicht mehr durch ihren Ehemann kündbar war oder dass Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 strafbar wurde und bis dahin der Ehefrau sogar untersagt war, bei Ausübung der ehelichen Pflicht „Widerwillen“ zu zeigen. Mütter gaben Töchtern dafür dann die „Schablonen“ weiter, „die keinen Raum zur Entfaltung natürlicher Fraulichkeit und bloßer Menschlichkeit“ lassen. Und Elfi Conrad fragt: Denken die jungen Frauen von heute „immer noch, ihr Pfund sei die sexuelle Begehrtheit?“
Dora hat sich jedenfalls einerseits nicht an das gehalten, was Mutter, Schule, Gesetze und Kulturindustrie für sie vorgesehen hatten. Sie ist ausgebrochen, furchtlos, skrupellos, wohl dem Überlebensinstinkt folgend. Und sie erfüllt andererseits eben doch die Schablone, wie ihr älteres Ich später weiß.
Faszinierend beiläufig analysiert Conrad den Missbrauch von Macht
Was einen aber so für dieses Buch einnimmt, ist Doras unbändige Energie, dieser unbedingte Lebenswille, der so elendig unterdrückt wird: vom Vater, der sie zwar zu einer furchtlosen Person erzieht, aber, selbst von seiner unterdrückten Libido gequält, wenig Rücksicht auf sie nimmt; von der kranken, ethisch deformierten Mutter, die sie auf eine Weise in ihre Intimitäten einweiht, dass es erstaunlich ist, dass diese Dora lebens- und liebesfähig bleiben konnte; von den Lehrern, die Rocklängen und Frisuren beaufsichtigen und eine schwarze Pädagogik der Angst betreiben.
Faszinierend ist, wie Elfi Conrad den Missbrauch von Macht ganz beiläufig am Beispiel verschiedener Instanzen analysiert und trotzdem auch ein zwar kühles, aber eben doch fragendes Verständnis für das Verhalten einzelner Personen aufbringt. Der Vater wird beispielsweise nicht in Schutz genommen, trotzdem fragt sie sich, was er als Siebzehnjähriger an der Front erlebte und durchschaut die passiven Aggressionen seiner Frau gegen ihn. Nicht zufällig sind in diesem Buch übrigens die „Reime“ zwischen den Generationen gesetzt, wie hier das Alter des Vaters und das seiner Tochter später. Mit solchen subtilen, oft auch humorvollen Mitteln fragt Elfi Conrad nach der Kontinuität und Ambivalenz giftiger Verhältnisse.
Der Lehrer Costa wird zwar alles andere als romantisiert, aber Conrad zeigt ihn als denjenigen, bei dem Dora nicht nur sexuell ihre eigene Macht erleben kann, sondern auch das Kind sein darf, für das es zu Hause keinen Platz gibt. Dort muss sie sich um den Haushalt, die Mutter und um die kleine Schwester kümmern und tut Letzteres mit unbeirrbarer Fürsorglichkeit – eine Ebene der Erzählung, die der leuchtende Kontrapunkt zur Herzensenge der Umgebung und vielleicht auch das Herz des Buches ist.
Unnachgiebig wird der Ton dagegen immer dann, wenn es um die Schule geht, zum Beispiel den Deutschunterricht. Elfi Conrad lässt ihre Erzählerin Goethes „Faust“ gegen den Strich lesen, lässt sie an Gretchens historisches Vorbild Susanna Margaretha Brandt erinnern, die durch „etwas“ im Wein betäubt und vergewaltigt wurde, und sie lässt Dora bei „unserem größten deutschen Dichter“ bitter vermissen, was sie bei Heinrich Leopold Wagners und Gerhart Hauptmanns Umgang mit dem Kindsmord-Stoff findet: Mitgefühl und „ihre Verurteilung der damaligen gesellschaftlichen Zustände“. Es wäre interessant zu hören, was die Lehrerin Conrad zu den Debatten um „Winnetou“ und Wolfgang Koeppens „Tauben im Gras“ zu sagen hätte.
Elfi Conrads Roman verhandelt jedenfalls mit beeindruckender Lebensklugheit und zupackender moralischer Urteilskraft nicht Schuld, sondern Schmerz und was aus ihm folgt, auch gegenwärtig. Würde es mehr Elfi Conrads beziehungsweise Doras in der Welt geben, wäre sie sicher eine weniger auf Vernichtung ausgerichtete, weniger menschenfeindliche, es wäre eine freigeistige und lebenslustige Welt.
Beate Tröger hat eine komplexe und tiefgreifende Rezension im Büchermarkt des Deutschlandfunks vorgelegt, die mich irrsinnig freut, aber auch ein bisschen verlegen macht:
Elfi Conrad: „Schneeflocken wie Feuer“ Zwischen Skrupel und Schamlosigkeit
Von Beate Tröger 17.07.2023
Was ist Begehren? Wo kommt es her, wie ist es gesellschaftlich bedingt? Welchem historischen Wandel unterliegt es? Elfi Conrad, geboren 1944, geht in ihrem Roman „Schneeflocken wie Feuer“ der weiblichen Lust ihrer Protagonistin nach. Entstanden ist das Porträt einer Frau, die, geboren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, schreibend begreift, dass weniger individuelle Motive als Konventionen und transgenerationelle Muster und Traumata ihr Begehren und ihre Sexualität geprägt haben.
Das Personal von „Schneeflocken wie Feuer“ besteht aus einer Familie im Nachkriegsdeutschland der frühen Sechzigerjahre. Sie lebt nach der Flucht aus dem Osten in einem Hinterhaus im Harz, in einer schäbigen Mietwohnung. Der Vater ist mäßig erfolgreicher Unternehmer, kühl und gefühllos wie viele Männer seiner Generation. Die Mutter, schön und intelligent, ist unzufrieden, migränegeplagt, unterfordert. Eine ungewollte Schwangerschaft, Hitler und der Zweite Weltkrieg haben der ehemals Klassenbesten die Möglichkeit zum Studium vereitelt. Sie ist seit vielen Jahren gefangen in einer Ehe, in der ihr das damals verfassungsmäßig verankerte Recht des Mannes auf regelmäßigen ehelichen Geschlechtsverkehr abverlangt wird. Aus dieser engen Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen: Dora, die Erzählerin des Romans, und ihre jüngere Schwester Birte. Zum Personal des Romans gehört auch der Musiklehrer von Dora. Er spielt nicht nur in einer Rockband, sondern auch eine tragende Rolle für Doras Entwicklung.
Ein Blick auf die gesellschaftliche Rolle der Frau
Ausgelöst werden die Erinnerungen der beinahe achtzigjährigen Dora an die Schulzeit, ihre Familie und ihren dornigen Weg bei einem Klassentreffen. Der Roman beginnt lapidar: „Ich war siebzehn, und ich war eine Frau. Es ist nicht Elfi Conrad Schneeflocken wie Feuer Mikrotext Verlag, Berlin. 304 Seiten 26 Euro so, dass ich dachte, ich sei eine Frau. Nein, ich war eine Frau, fühlte mich damals nicht anders als heute. Heute bin ich alt, fast achtzig. Aber dieses Gefühl ist über die Jahrzehnte hinweg gleichgeblieben. Erfahrung und Wissen haben es nicht verändert.“ 1 Wer nun meint, die Hauptfigur habe im Verlauf der Jahrzehnte keine Entwicklung durchgemacht, wird eines Besseren belehrt. Doras Geschichte ist voller Brüche, aber auch voller Einsichten im Blick auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Der jungen Dora ist es aber zunächst wichtig, sich aus dem Dunkel der Tabuzonen und Restriktionen nicht nur herauszubewegen, sondern sie erst einmal zu erfassen. Es gilt zu verstehen, was es mit dem eigenen Begehren auf sich hat und wie man damit umgeht: „Mit meiner geballten Hitze, der keinerlei Entladung gegönnt wird — nur Männer haben einen Höhepunkt und nur sie können sich selbst befriedigen, sagt meine Mutter und deine Unschuld musst du mindestens bis zwanzig bewahren wegen der Schwangerschaftsgefahr — würde ich mich am liebsten auf das nächstbeste, halbwegs männliche Exemplar stürzen. Aber ich weiß, dass ich es verschrecken würde, so geht das Spiel nicht.“
Verführung als Auflehnung
Doch Dora findet sich damit nicht ab: Sie stürzt sich tatsächlich aus Wut und Trotz auf den Musiklehrer mit den langen Haaren und der lässigen, fast nachlässigen Kleidung. Der Lehrer, nebenberuflicher Rockmusiker in einer Zeit, in der die Beatlemania bevorsteht, wird das Objekt von Doras Begehren, Ziel ihrer Verführung. „Ja, ich beherrsche das Repertoire, neben dem Hüftwackeln das Herausstrecken des schaumgummiummantelten Busens, das Schürzen der Lippen zum Schmollmund, den Augenaufschlag mit Unschuldsmiene, um die Kindfraulichkeit zu betonen. Statt Latein haben wir BB studiert. Brigitte Bardot, das Idol. Haben uns abgeguckt, wie jene Künstlichkeit funktioniert, die Männer auf Hundertachtzig bringen.“ „Schneeflocken wie Feuer“ schildert ehrlich, wie Dora dem Musiklehrer so lange und offensiv den Hof macht, bis er sich nicht mehr länger entziehen kann. Sie setzt dafür nicht nur ihre Schönheit, sondern auch ihre Klugheit und ihre Musikalität ein. Doras Furor ist ungewöhnlich für eine junge Frau dieser Zeit, der Sittsamkeit, Bescheidenheit und Feinheit nicht nur ins Poesiealbum geschrieben, sondern unter oft schlimmen Drohungen abgezwungen wurden. Vergessen wir nicht: Nicht nur der Beischlaf konnte damals von verheirateten Frauen verlangt werden. Sie mussten noch bis in die frühen Siebzigerjahre hinein Männer um Erlaubnis fragen, wenn sie einem Beruf nachgehen wollten. Dora wütet auf ganzer Linie gegen ihre Erziehung, gegen solche Konventionen, zieht den Zorn immer wieder auf sich: „Dora will ihren Führerschein ablegen, als Frau! Und in ihrem Alter, sie ist doch gerade erst achtzehn geworden! Unglaublich, geradezu unverfroren!“
Selbstironische Sachlichkeit auf dem Niveau von Colette oder Annie Ernaux
Bitter ist, dass Doras Begehren sich, wie jedes Begehren, aus der Erfahrung des Mangels speist. Dieser Mangel ist enorm. Zärtlichkeit ist in der Familie kaum vorhanden. Von der unglücklichen, dem Nationalsozialismus nie wirklich abschwörenden Mutter wird Dora bei Rückenmassagen mit deren Eheproblemen bis ins Elternbett hinein belastet. Vom Vater wird 2 sie im Bad überrascht, wird sie länger als nötig erotisch berührt. Letztlich liegt in der Familie ein doppelter Missbrauch Doras vor. Der Musiklehrer mit seiner coolen Musik, der Junggesellenwohnung samt Flokatiteppich erscheint da als Personifikation der heiß ersehnten Freiheit. Conrads Erzählerin macht sich und uns aber nichts vor: Der Lehrer ist für Dora ein Mittel zum Zweck, ein Objekt ihrer Wut und Rache über die Strukturen, nicht mehr als eine Station auf dem Weg in ein selbstbestimmteres Leben. Als die Affäre auffliegt, verliert er seinen Beruf. Und es wird noch lange dauern, bis Dora in der Freiheit angekommen ist. „Schneeflocken wie Feuer“ lässt sich in seiner kühlen, oft selbstironischen Sachlichkeit und seinen Fragen nach weiblicher Selbstbestimmung und weiblichem Begehren durchaus vergleichen mit den Romanen von Annie Ernaux, Colette oder Simone de Beauvoir. Die Berliner Verlegerin Nikola Richter hat mit ihrer Entscheidung, „Schneeflocken wie Feuer“ in ihrem Verlag mikrotext zu veröffentlichen, einmal mehr ihren Spürsinn für unkonventionelle und kluge literarische Positionen bewiesen.
Insa Wilke, Vorsitzende der Jury für die 47. Tage der deutschsprachigen Literatur 2023 (Bachmann-Wettbewerb), hat in der Kleinen Zeitung den Roman als Buchtipp gegeben, (große Freude):
Denis Scheck hat auf WDR2 am 30.7.23 einen Buchtipp abgegeben und dazu eine traumhafte, für mich kaum zu fassende Rezension.
Hier die Zusammenfassung:
Die Autorin Elfi Conrad hat unter dem Titel „Schneeflocken wie Feuer“ einen autobiographischen Roman geschrieben, der begeistert. Sie liefert hier eine glänzende Gesellschaftsanalyse, die sie ganz eng mit der individuellen Geschichte von Dora verwebt. Und das gelingt ihr überaus gut.
Dies ist ein Roman, der seinen Lesern nur allzu deutlich zeigt, wie sehr die Gesellschaft Anfang der 1960er Jahre noch von den Werten der Nationalsozialisten geprägt war. Die 80-jährige Erzählerin blickt kritisch zurück, ordnet ein und reflektiert auch ihr eigenes Handeln damals.
Elfi Conrad erzählt von einer jungen Frau, die sich nach Selbstbestimmung sehnt. Und wie sie das macht, kann einen als Leser wirklich in den Bann ziehen.
Denis Scheck empfiehlt im WDR am 7.8.2023 noch mal den Roman mit ganz anderen Worten und ebenso begeistert als literarisches Ereignis. Ich bin ebenso „hin und weg“ wie er!
Anne-Dore Krohn bespricht den Roman sehr temperamentvoll und begeistert auf rbb Kultur (hier nur Ausschnitte):
Eine absolute Entdeckung, dieses Buch von Elfi Conrad. Das ist eine Gesellschaftsanalyse der Nachkriegszeit, sehr anschaulich erzählt am Beispiel einer jungen Frau, die die Frage nach Selbstbestimmung, nach einem selbstbestimmten Leben umtreibt.
Dieses Buch katapultiert einen direkt zurück in die 1960er Jahre: die Nachkriegszeit, das Aufwachsen im Schatten der Nazizeit, die in vielen Strukturen natürlich noch zu spüren war, und es geht um die Geschlechterrollen, um die Frage nach Gleichberechtigung.
Die 1960er Jahre stehen hier wirklich total auf: die Musik von Conny Froboess, die Beatles, Elvis Presley, dann diese Steh-Parties mit Klassenkameraden, heimliche Küsse, die Mode, enge Ledergürtel, schwingende Kleider.
Fazit: Da trifft die Lebenserfahrung einer überzeugten Feministin auf eine junge unerfahrene Frau mit Lebenshunger.
In der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung ist eine ganzseitige und punktgenaue Rezension von Cornelia Geißler erschienen:
„Schneeflocken wie Feuer“ von Elfi Conrad: Ein kalter Frauenblick zurück / 03.09.2023
Elfi Conrad erzählt in ihrem Roman „Schneeflocken wie Feuer“ von den frühen 60er Jahren und einer Gesellschaft, die Mädchen zu Weibchen dressierte
Wir haben damals alle ausgesehen wie Kindfrauen, schreibt die Erzählerin in dem Roman „Schneeflocken wie Feuer“. Doch das Kindliche sei nur äußerlich gewesen, „innerlich verfügten wir über eine ausgeklügelte Raffinesse, uns in Szene zu setzen“. Davon handelt dieses Buch, von einer jungen Frau, die eine Rolle spielt, um ein Ziel zu erreichen. Doch das ist nur die eine Ebene.
Es sind die frühen 1960er-Jahre der Bundesrepublik Deutschland, zeitlich ist die Romanhandlung mit dem Tod Marilyn Monroes (4. August 1962) und der Kubakrise (Oktober 1962) genau markiert. Die Mauer steht seit einem Jahr; in den Osten, der nur „sogenannte DDR“ heißt, werden Päckchen geschickt. „Am Ende des Jahres, Weihnachten, werde ich achtzehn Jahre alt, aber noch bin ich siebzehn. Volljährig werde ich durch das Erlangen des achtzehnten Lebensjahres noch nicht, sondern erst mit einundzwanzig.“
Dora nennt sie sich, es ist nicht die Autorin Elfi Conrad, obwohl das Alter ungefähr stimmen dürfte. Conrad, Jahrgang 1944, schreibt auf ihrer Website, dass das Schwarz-Weiß-Foto auf dem Cover des Buches sie selbst zeige, auf einem Schnappschuss bei einer Feier: eine junge Frau mit einem Bowle-Glas in der Hand, hochgestecktem Haar, einem oben anliegenden, unten weit ausgestellten Kleid.
„Wegen des Schlafmangels bin ich ständig müde. Aber wenn Jungen in der Nähe sind, wache ich auf. Und wenn dann noch Musik ertönt, bin ich nicht zu halten.“ Diese Dora lebt in einem „Städtchen hinter dem Mond“ im Westharz, spielt Cello, Klavier und Flöte, hat einen Freund in einer höheren Klasse, mit dem sie Briefchen austauscht, die sie in ein Loch im Physiktisch steckt. Sie muss sich oft um die kleine Schwester kümmern und auch Brote für den Vater schmieren, weil die Mutter phasenweise unter zermürbenden Kopfschmerzen leidet.
Die Erzählerin schaut kühl, ohne Verklärung auf ihr Erwachsenwerden in einer Zeit, da die prüde Gesellschaft durch Musik von Elvis Presley, Filme mit Marilyn Monroe und Bücher von Henry Miller aufgestört wird. „Statt Lateinvokabeln zu lernen, haben wir BB studiert. Brigitte Bardot, das Idol. Haben uns abgeguckt, wie jene Künstlichkeit funktioniert, die Männer auf Hundertachtzig bringt.“
Elfi Conrad nimmt die Leserinnen und Leser mit und ordnet dabei an vielen Stellen die Denkweisen von damals ein. Niemandem sei es eingefallen, wegen der Gesundheit auf Fleisch zu verzichten, und dass Rauchen Krebs erzeugen kann, sei keinem bewusst gewesen. Man schrieb Zettel oder suchte eine Telefonzelle auf, „heute würde man eine SMS oder Messenger-Nachricht senden“. Diese 60 Jahre zurückliegende Geschichte spielt in einer fremden, fernen Welt. Aber es ist doch nur die Zeit vieler, die heute Großeltern sind.
Die Fallhöhe wirkt noch einmal größer, wenn man das mit einer Ost-Biografie liest, denn es wurde zwar (zumindest privat) dieselbe Musik gehört und dieselbe Mode getragen, aber der Erlebnisradius und die Aussichten einer jungen Frau waren in der DDR vielversprechender. Die Erzählerin in den „Schneeflocken …“ beobachtet, dass die Mehrheit der Lehrer Mädchen „als zukünftige Haushalts- und Muttertiere sah“; im Osten wurde erwartet, dass sie Berufe ergreifen, natürlich auch politische Zuverlässigkeit. Sehr auffällig wird das zum Beispiel im Vergleich zu den Büchern von Brigitte Reimann aus den 60er-Jahren wie „Ankunft im Alltag“ oder „Die Geschwister“.
Im Kern erzählt Elfi Conrads Roman von einer jungen Frau, die einen zwölf Jahre älteren Mann planvoll erobert. „Er hatte keine Chance, mir zu entkommen“, sagt Dora über den Musiklehrer. Die Szenen der Begegnungen, bei denen sich beide verändern, ändern sich auch im Ton. Sind der Tanz mit dem Lehrer und der erste heimliche Kuss zunächst für Dora so etwas wie ein Akt der Rebellion – sie wollte Macht „über ihn, über das System“ –, kommt später Achtung vor dem Mann dazu, sogar für seinen Blick auf Frauen. Doch so viel Zeit inzwischen vergangen ist, bleibt der Unterschied am zentralen Punkt der Handlung gering: Was damals im Gesetz „Unzucht mit Abhängigen“ hieß, wird heute juristisch „sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen“ genannt.
Die Erzählerin kommt zu dieser Geschichte, so gibt sie vor, weil sie bei einem Klassentreffen resümiert, was aus ihr und den anderen geworden ist. Das Gespräch über den Musiklehrer wird dabei vermieden. Für Dora mag die Erinnerung an das unbotmäßige Rütteln an den Grenzen für Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zwar der Anlass für Erinnerungen sein, doch damit gibt sich die Autorin Elfi Conrad glücklicherweise nicht zufrieden. Mit distanziertem Blick fragt sie, warum die Gesellschaft so funktionierte, wie Dora sie in ihrer Jugend erlebte. Und die sieht die Muster bei den eigenen Eltern.
Der Vater weiß, wie gebildet und intelligent die Mutter ist, hält sie aber klein. Die fügt sich, hat auch zu ertragen, wie ihr Ehemann ihr immer wieder vorführt, von ihr nicht zu bekommen, was er von einer Ehefrau erwartet. Die Mutter reicht die Demütigungen an die Tochter weiter. Die Eltern sind aufgewachsen in einer Atmosphäre der Hitler-Verehrung, damit auseinandergesetzt haben sie sich nicht. Über ihre traumatische Fluchtgeschichte und die Mühen des Anfangs an einem fremden Ort spricht die Mutter nur zu Dora. Die weiß: „Das Wort ,Schlesien‘ ist ein verbotenes Wort. Ich darf es nicht benutzen. Nicht öffentlich, nicht bei Bekannten, nicht bei Freunden. Wegen der Schuld. Ich darf nicht sagen, dass alle meine Verwandten geflohen sind.“
Die Autorin Elfi Conrad hat als Lehrerin gearbeitet und zu Kognitionswissenschaft und Semiotik geforscht und promoviert. Sie veröffentlichte unter dem Pseudonym Phil Mira zunächst Romane im Eigenverlag und fiel als feministische Stimme auf Twitter auf, bis sie zu Mikrotext fand – dem kleinen Berliner Verlag, wo auch das im Frühjahr in Leipzig ausgezeichnete „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter erschien. „Schneeflocken wie Feuer“ ist so besonders, weil sich die Erzählstimme immer der Bedingungen bewusst ist, unter denen ihre Dora handelte. Sie erzählt auf eine Weise, die einen emotional direkt erreicht, aber stets zugleich reflektieren lässt. Und sie zeigt auch die Befreiung einer Frau aus den Grenzen der Erziehung.
Katharina Manske hat eine fachkundige Rezension im Bücher-Magazin veröffentlicht, nachdem sie der Autorin sehr kluge Fragen gestellt hat:
DEM RAHMEN ENTWACHSEN
JUL 27, 2023 4 MINUTEN
Was beschäftigt das junge Mädchen auf dem Cover von Elfi Conrads Debütroman „Schneeflocken wie Feuer“? Sie trägt ein schickes Kleid und ist im Begriff, an einem Cocktail zu nippen, doch sie wirkt dabei abwesend, verträumt, fast traurig. Oder täuscht das? Das Bild hat auch etwas Dynamisches, es wirkt, als ob sie jeden Moment aufstehen könnte. Vielleicht um zu tanzen? Vielleicht aber auch, um das Bild einfach zu verlassen? Das Foto zeigt die Schriftstellerin selbst als junges Mädchen. Als Hintergrundmaterial für diesen Artikel hat sie noch weitere mitgeschickt, die weniger natürlich wirken: Dasselbe junge Mädchen hat sich darauf in Posen geschmissen, die es viel älter erscheinen lassen, als es ist. Sie will gefallen, so viel ist klar. Sie will genau an dieser Stelle, in diesem Bild sein. Laut eigener Angaben sind die Posen den Sexikonen der 1960er-Jahre wie Brigitte Bardot nachempfunden. Man könnte sie aber durchaus auch heute auf Instagram posten. Die Hauptfigur in Elfi Conrads Roman heißt Dora, sie ist dieses Mädchen auf den Fotos. Sie ist das Mädchen, das die 1944 geborene Autorin einmal war – und sie ist es nicht.
„Meine Biografie ist – mehr oder weniger – immer der Steinbruch für meine Romane“, so Conrad. Die 17-jährige Dora lebt in der kleinen Stadt Clausthal-Zellerfeld im Harz, in der auch Elfi Conrad aufwuchs. Sie geht, so wie sie, als eines von wenigen Mädchen aufs Gymnasium und bekommt dort von den männlichen Lehrern immer wieder zu spüren und auch zu hören, dass diese sie zwar dulden, ihren Bildungsweg aber überflüssig finden, weil Frauen ihre größte Erfüllung sowieso darin finden würden, zu heiraten und Kinder zu kriegen. So wie ihre Mutter, die an der Enge der Kleinstadt und Ehe leidet, ist Dora talentiert, klug und voller Lebenshunger.
„Dora rebelliert auf ihre Art, passt sich aber letztlich an und versucht, dem damaligen Frauenbild gerecht zu werden, indem sie die Künstlichkeit der Sexikonen nachahmt. Allerdings tut sie das nur, wenn sie Jungen oder Männern begegnet“, so die heute in Karlsruhe lebende Autorin über ihre Hauptfigur. Ohne sich dessen bewusst zu sein, dass sie die starren Bilder von Weiblichkeit, die sie einschränken, damit nur reproduziert, beschließt Dora, Rache an den Männern um sie herum zu nehmen: Sie will den Musiklehrer verführen, ausgerechnet den Mann, der von allen Lehrern an ihrer Schule derjenige mit den fortschrittlichsten Ansichten ist. Costa Schokardt, von den Schülern „Schoki“ genannt, ist noch recht jung, trägt lange Haare, spielt in einer Rockband und ist der Schwarm vieler Schülerinnen. Er ist verheiratet, lebt aber während der Arbeitswoche von seiner Frau getrennt.
Der Musiklehrer geht wirklich eine Affäre mit ihr ein. Doch was zunächst als Racheplan angelegt war, wird für die junge Frau mehr und mehr zu einer Zeit der Selbsterfahrung, an der sie emotional wächst. Die beiden haben eine gemeinsame Leidenschaft: Musik. Diese geht dem Sex voraus, noch bevor es zur ersten Berührung kommt, musizieren sie zusammen und studieren ein schwieriges Stück für eine Schulaufführung ein. Auf diese Weise entsteht etwas, das Doras Welt größer und weiter macht und sich schließlich in der sexuellen Begegnung fortsetzt. Sie selbst bezeichnet es nicht als Liebe, nicht als Hingabe. Sie beschreibt es so: „Ich will diese Kraft spüren, die von ihm ausgeht. Die zusammen mit meiner etwas Neues gebiert. Einen Raum, in dem wir zusammen fliegen und atmen und riechen und schmecken und unbekannte Formen und Farben sehen, als hätten wir psychedelische Drogen genommen. Ein Raum, der sich mehr und mehr weitet, bis er zu feinen Tropfen zerstiebt.“ Das könnte aus manchem Mund pathetisch klingen, zu Dora, die dem Lehrer auch Gedichte schreibt, die sie zwischen seine Notenblätter schmuggelt, passen diese Worte. Für ihr Erleben hat Elfi Conrad eine Sprache gefunden, die sinnliche Erfahrung stark nachvollziehbar macht, die etwas, das schwer zu beschreiben ist, sehr dicht umkreist. Warum das Buch „Schneeflocken wie Feuer“ heißt, weiß man nach dieser Szene: „An der Haustür eine lange Umarmung., Du hast keinen Führerschein, kann das sein?‘, fragt er., Beim nächsten Mal hole ich dich ab, wir machen einen Treffpunkt aus.‘ Die Schneeflocken auf meiner Haut wie Feuer. Das leise Klappen der Haustür in meinem Rücken.“
In der bewegten Biografie der Protagonistin ist die Affäre mit dem Lehrer nur eine Episode, etwas Flüchtiges und dennoch etwas, das tief empfunden werden kann. Es ist die alte Frau, die diese Worte für die junge findet. Als Rahmenhandlung des Romans hat Elfi Conrad ein Klassentreffen gewählt, in dessen Verlauf sich die alte Dora zurückbegibt in ihre Schulzeit. Immer wieder wird die Gegenwart als Erzählstrang eingeblendet und mit dem Vergangenen in Relation gesetzt. Die Sicht der alten Frau auf das Geschehen von damals und auch auf ihr jüngeres Ich ist großzügig und liebevoll. Auch den Musiklehrer, der von seiner Vermieterin wegen „Unzucht“ angezeigt wurde, was die Affäre jäh beendete, betrachtet sie mit Respekt und Wärme.
Eine gewisse Strenge zeigt sich in ihrem Blick, wenn es um Doras Spiel mit den Posen geht, ihren Umgang mit dem Frauenbild von damals. Dass ihr dieses Thema besonders am Herzen lag und liegt, wird beim Lesen klar: „Es hat Spaß gemacht, die patriarchalischen Strukturen zu analysieren und die Gründe für Doras Verhalten, das zu einem großen Teil auch mein Verhalten war, zu durchschauen. Das künstliche Weibchen-Getue, das wir uns von den Sexikonen abschauten, befremdete mich einerseits, andererseits konnte ich mich sehr gut daran erinnern, wie es sich anfühlte. Es gab aber auch schmerzhafte Momente, in denen ich wieder das Eingesperrtsein in die oktroyierte Frauenrolle und die Machtlosigkeit spürte. Ich fühlte sie durch das Erkennen der Zusammenhänge fast stärker als früher, weil ich damals – wie Dora – eine Meisterin im Verdrängen war. Dann kam die damalige Wut in mir hoch, potenzierte sich und floss in den Roman ein“, erinnert sich die Autorin an den Schreibprozess, der nur wenige Monate gedauert hatte.
Neben „Schneeflocken wie Feuer“ hat Elfi Conrad schon mehrere weitere Romane und Kurzgeschichten geschrieben und als Selfpublisherin unter dem Namen Phil Mira veröffentlicht. Auf die Frage, warum sie erst jetzt den Weg zusammen mit einem Verlag geht, antwortet sie: „Den Lektoren waren die Romane zu emanzipatorisch oder zu sehr auf den weiblichen Erfahrungshorizont bezogen. Den Lektorinnen waren sie nicht romantisch genug und der Stil zu außergewöhnlich. Die Lektorinnen, die begeistert waren, hatten keinen Einfluss auf Entscheidungsträger.“ Dass ihr Roman nun doch in einem Verlag, nämlich bei mikrotext erschienen ist, hat sie der Schriftstellerin Sarah Raich zu verdanken, die sie auf Twitter anschrieb, nachdem sie ihren Phil-Mira-Roman „Bloßlegung“ gelesen hatte und um weitere Manuskripte bat.
Wie Dora hat Elfi Conrad außerdem Musik studiert und in den Fächern Kognitionswissenschaft und Semiotik promoviert. „Wenn man über etwas schreibt, das 60 Jahre zurückliegt, ist es nützlich zu wissen, wie Erinnern und die Repräsentation des Erlebten im Gedächtnis funktionieren, um es für sich und andere einordnen zu können“, so Conrad. „Wissenschaftliches Arbeiten ist gar nicht so weit entfernt vom Schreiben eines Romans. Man muss ein komplexes Netz entwerfen, bei dem jeder Knoten eine bestimmte Funktion erfüllen muss.“ Das erzählerische Netz, das sie erschafft, ist dicht und nimmt einen gefangen. Verführung im besten Sinn.
Eine kluge Rezension im Radio bei NDR-Kultur von Juliane Bergmann.
Eine vielschichtige einfühlsame Rezension im Blog Horatio-Bücher , die zielgerecht Finger und Blick auf die Teile des Textes legt, die ihn zusammenhalten und sie prägnant interpretiert, dabei besonders die „klare, sachliche, aber gleichzeitig auch poetische Stimme“ erwähnt:
Elfi Conrad, „Schneeflocken wie Feuer“ / September 5, 2023
„Ich war siebzehn, und ich war eine Frau.“
Der erste Satz des Romans. Einfach, klar, selbstbewusst. Statement und Leitmotiv.
Der Roman “Schneeflocken wie Feuer” erzählt die Geschichte der siebzehnjährigen Schülerin Dora, die in der Bundesrepublik der frühen 1960er Jahre mit ihrer Familie in einem Kleinstadthinterhaus lebt. Die Flucht aus Schlesien hat die Familie in den immerzu winterlichen Harz verschlagen, und genauso kalt und erstarrt wie die Umwelt, ist dort auch das Leben im Jahr 1962.
An Doras Schule herrscht die damals typische Atmosphäre von Amtsautorität, Disziplin und Gehorsam. Wie überall in der Gesellschaft herrscht in vielen Köpfen noch der Geist von Diktatur und Nationalsozialismus.
„Die Lehrer führten uns jeden Tag vor Augen, dass wir keine Ahnung hatten. Dass wir nichts waren! Dass wir es nicht wert waren, auf einem Gymnasium zu sein. … Die Lehrer wussten nichts über Pädagogik, hielten ihren geistlosen Drill und die Verbreitung von Angst für Unterricht. Hatten nicht gelernt, wie man Kindern Spaß am Lernen beibringt. Das, was sie für unsere Dummheit hielten, war ihre Unfähigkeit.“
Als Jurist kam mir beim Lesen dieser Zeilen sofort das (früher tatsächlich so bezeichnete) „Besondere Gewaltverhältnis“ in den Sinn, das bis zu einem erlösenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1972, für das Verhältnis von Schule zu Schüler*innen kennzeichnend war. Letztere galten rechtlich als untergeordnet und waren im Verhältnis zur Schule keine Träger*innen von Grundrechten. Kaum zu fassen, aber der Alltag im Jahr 1962.
Die siebzehnjährige Dora begehrt auf. Sie ist sich ihrer weiblichen Reize bewusst und setzte diese sehr gezielt ein, um ihren neunundzwanzigjährigen Musiklehrer Costa zu verführen. Immer stärker und raffinierter umschwärmt sie den jungen Lehrer bis sich zwischen beiden schließlich eine Affäre entwickelt.
„Er hatte keine Chance mir zu entkommen.“
Neben der, natürlich auch in diesem Fall ganz klar und eindeutig zugewiesenen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des erwachsenen Lehrers, sind die menschlichen und gesellschaftlichen Hintergründe jedoch weitaus komplexer. Bei Doras Avancen an den Lehrer handelt es sich nicht einfach nur um naive Schwärmereien einer Schülerin, einem Klischee, das zudem ganz wunderbar in das damals herrschende Frauenbild gepasst hätte. Nein, neben allen romantischen Aspekten geht es für die Siebzehnjährige um weitaus mehr. Hier kämpft eine junge Frau um Selbstbestimmung. Elfi Conrads Dora ist weder Opfer noch Täterin, sondern ganz einfach eine Frau, die in der von Männern dominierten Enge und Spießigkeit der alten Bundesrepublik als handelndes Subjekt wahr- und ernstgenommen werden will.
„Es gab noch etwas, was mich antrieb. Was in meinem Unterbewusstsein lauerte und erst jetzt zutage tritt. … Und vermutlich war es nicht er, der mich auf geradezu unnatürliche Weise anzog, sondern seine Stellung. Er war mein Lehrer. … Und ich wollte Macht. Über ihn, über das System. Wir alle verachteten das System, dem wir ausgeliefert waren. Und wir verachteten die Lehrer.“
In dieser Zeit ein unerhörtes und nahezu aussichtsloses Unterfangen. In den 1960er Jahren war die Situation der Frauen immer noch mehr als düster. Zwar hatten sich gerade erst 13 Jahre zuvor, die vier (!) Mütter des Grundgesetzes (es gab noch 61 Väter!) behaupten und den wunderbar klaren Wortlaut des Artikel 3, Absatz 2 Grundgesetzt durchsetzen können: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, im rechtlichen und gesellschaftlichen Alltag hatte dieser Erfolg jedoch noch keine größeren Umwälzungen nach sich gezogen. Immer noch waren die Arbeitsverhältnisse der Ehefrauen durch die Ehemänner kündbar, Kaufverträge oberhalb des alltäglichen Bedarfs nur mit Zustimmung der Ehemänner wirksam, wurden Ehen schuldig geschieden (was für die Frauen oft nicht besonders gut ausging) und an eine Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe noch lange nicht zu denken. Man könnte diese Liste problemlos fortführen. Ich will mich wiederholen: Kaum zu fassen, aber der Alltag im Jahre 1962.
Dementsprechend ist „Schneeflocken wie Feuer“ ein Zeitzeugnis und Portrait der 60er Jahre, das den Blick ganz besonders auf die gesellschaftlichen Machtverhältnisse richtet: Das rechtliche „besondere Gewaltverhältnis“ in den Schulen, die privaten Familien, die in aller Regel ganz dem traditionellen Rollenbild verhaftet waren und von den Ehemännern dominiert wurden, natürlich die dominanten Werte und Normen der Kirchen, die Arzt-Patient*innen-Verhältnisse in den Krankenhäusern, usw. „Schneeflocken wie Feuer“ zeigt einen Teenageralltag, in dem die Jugendlichen ständig mit Autorität und Machtgefällen zu ihren Lasten konfrontiert sind und keinerlei Möglichkeiten haben, sich als Menschen zu entfalten.
In besonders drastischer Form gilt dies für die Frauen. Während sich für junge Männer mit Erreichen der Volljährigkeit zumindest Perspektiven und Möglichkeiten auf ein selbstbestimmtes Leben eröffneten, war das für junge Frauen rechtlich und gesellschaftlich nicht vorgesehen.
„Erst Mitte der 1970er Jahre wird man in Westdeutschland mit achtzehn Jahren volljährig. Sollte ich bis dahin verheiratet sein, wird mir das nichts nützen, denn ich werde als Ehefrau kaum Rechte haben und für ein selbstbestimmtes Leben die Erlaubnis meines Ehemannes benötigen.“
„Schneeflocken wie Feuer“ ist natürlich ein feministischer Roman. Dora, eine junge Frau voller Energie, Talent und Lebenslust, versucht die gesellschaftlichen Grenzen ihrer patriarchalischen Lebensrealität zu durchbrechen. Sie fordert die Macht heraus. Nicht aus ideologischen oder heldenhaften Motiven, sondern eher unbewusst, ihrem inneren menschlichen Antrieb folgend.
Als Ich-Erzählerin des Romans verfügt Dora über eine klare, unaufgeregte, nüchterne Sprache, durch die ihren engagierten, klugen, geradezu analytischen Betrachtungen eine besondere poetische Nuance hinzufügt wird. Eine ganz außergewöhnliche Stimme.
„Ich will nicht, dass er sich hingibt. Will mich nicht hingeben. Aus der Hand geben, weggeben, verlieren. Will auch nicht aufgehen in ihm, wo wären wir dann? Es wäre nichts übrig von mir. Will auch nicht, dass er in mir aufgeht, ich stünde sonst dem Nichts gegenüber. Ich will diese Kraft spüren, die von ihm ausgeht. Die zusammen mit meiner etwas neues gebiert.“
Für Teenager*innen wäre Doras hohes Maß an Abgeklärtheit und Reflexionsvermögen sicherlich recht ungewöhnlich. Geschickt umgeht Elfi Conrad dieses Problem, indem sie Dora ihre Geschichte nicht als siebzehnjährige Schülerin, sondern aus der Perspektive der Dora unserer Gegenwart erzählen lässt. Die Dora der Gegenwart trifft ganze sechzig Jahre nach den Ereignissen des Jahres 1962 bei einem Klassentreffen im Harz wieder auf ihre Schulkameraden und -kameradinnen. Jetzt, knapp achtzigjährig, erzählt sie ihre Geschichte vollständig aus der Retrospektive. Das ermöglicht es der Ich-Erzählerin, nach Belieben zwischen dem Erfahrungshorizont der Siebzehnjährigen und der knapp Achtzigjährigen zu wechseln, und auf diese Weise die Erlebnisse wunderbar klug einzuordnen und zu bewerten.
„Aber es werden noch beinahe zwanzig Jahre vergehen, bis der alte Muff und der preußische Drill, der teilweise auch außerhalb Deutschlands herrscht, hinweggefegt werden. 1962, als das Buch über Pippi schon dreizehn Jahre alt ist und ein gutes Vorbild für meine kleine Schwester abgegeben hätte, kennen meine Eltern und ich es nicht.“
„Schneeflocken wie Feuer“ ist ein autobiografischer Roman, genauer gesagt ein autofiktionaler, der stark von der Lebensgeschichte der Autorin inspiriert ist. Elfi Conrad ist Jahrgang 1944 und wie ihre Protagonistin im Harz aufgewachsen. Später verschlug es sie nach Karlsruhe, wo sie an Schulen und der Pädagogischen Hochschule lehrte und noch heute lebt. Ihrer Homepage ist zu entnehmen, dass sie auch über diese Eckdaten hinaus vieles mit ihrer Ich-Erzählerin verbindet. Neben Schwarzweißfotografien, die die siebzehnjährige Autorin in den Posen der Dora des Romans zeigen, erfährt man dort, dass auch das Coverfoto des Buchs aus ihrem privaten Besitz stammt. Das schwarzweiße Foto zeigt Elfi Conrad selbst, als siebzehnjährige junge Frau in einer 60er Jahre Umgebung. Ihr Blick ist melancholisch-entrückt, scheinbar ins Leere gerichtet. Nach vorn gebeugt, etwas verkrampft sitzend. Im Hintergrund, schemenhaft, ein Mann in schwarzem Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte. Der Mann sitzt in entspannter, ausgestreckter Pose. Nach eigenen Angaben ein Partyschnappschuss. Besser können Coverfoto und Roman kaum korrespondieren. Absolut gelungen.
Wie für einen autofiktionalen Roman üblich, weiß man bei Doras, bzw. Elfi Conrads Geschichte nie, wo die Autobiografie endet, und die Fiktion beginnt. Genau diese unscharfe Grenze zwischen Roman und Autobiografie regt zu Spekulationen an und verschafft der Geschichte gleichzeitig eine ganz besondere Authentizität. Im Falle von „Schneeflocken wie Feuer“ wirkt das ausgesprochen stimmig und angemessen.
Ich denke, längst ist klar, Elfi Conrads Roman hat mich begeistert. Ihre klare, sachliche, aber gleichzeitig auch poetische Stimme und ganz besonders ihre rationale, mutige, empfindsame Offenheit, konnten mich nachhaltig beeindrucken.
„Schneeflocken wie Feuer“ ist so vieles in einem und in allem ganz wunderbar gelungen. Authentisches Zeitzeugnis, feministisches Statement, beeindruckende Autobiografie und berührende Geschichte. Großartig.
Eine feinsinnige Rezension von Maximilian Perseke bei NTV, die u.a. auf behandelte Kriegserlebnisse eingeht und hellsichtig eine wichtige Stelle im Roman zitiert:
Roman über einen Missbrauch Im kalten Oberharz, in den Armen ihres Lehrers
Von Maximilian Perseke 18.06.2023
Dora will ihren Lehrer verführen – oder erliegt die Schülerin der sexuellen Anziehungskraft eines Untäters? Der Roman „Schneeflocken wie Feuer“ erzählt von der Entwicklung einer 17-Jährigen zur Frau – inmitten einer patriarchalischen Gesellschaft Anfang der 1960er-Jahre.
Geboren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, in eine Familie von Vertriebenen, mit einer Hitler-Anhängerin als Mutter und einem brüllenden Vater, wächst Dora, die 17-jährige Protagonistin des Romans „Schneeflocken wie Feuer“, unter schwierigen Umständen zu einer Frau heran. In einer konservativen Gesellschaft. Und dann noch im Oberharz. Sie muss ständig frösteln. Selbst im Sommer. Einer Hochschule in der Nähe wird scherzhaft zugesprochen, deutschlandweit die „einzige Uni mit zwei Wintersemestern“ zu sein.
Aber soweit ist Dora noch nicht. Sie bereitet sich auf ihr Abitur vor. Und sie trotzt mit all ihrer Lebensenergie nicht nur der Kälte. Denn ihre Aufgaben, sei es in der Schule oder zu Hause, nehmen kein Ende. Allabendlich muss sie etwa die körperlich wie mental ausgelaugte Mutter massieren, die kleine Schwester ins Bett bringen, schließlich die eigenen Hausaufgaben erledigen und anschließend dem Vater Brote schmieren. Sie macht das alles, ohne zu murren.
Und dazwischen noch eine weitere Aufgabe: eine Frau werden. Sie wird sexuell begehrt, nicht nur von Mitschülern. Einem Mann auf der Straße muss sie ein Knie in den Schritt rammen, als dieser ihr zwischen die Beine greifen will. Vonseiten ihrer Mitschüler und auch eines Lehrers gefällt ihr das Begehrtwerden, und sie sucht es. Eines ihrer Vorbilder ist Brigitte Bardot.
Damals Brigitte Bardot, heute dürre Models
Im Spannungsfeld des teils auf missbräuchliche Weise Begehrtwerdens und des aktiven Strebens nach einer selbstbestimmten Entwicklung als Frau spielt der Roman der 78-jährigen Autorin Elfi Conrad. Also in einem Spannungsfeld, das auch heute noch unbedingt hochaktuell ist – und Conrad deswegen zum Schreiben ihres Romans bewegt hat, der ihr erster bei einem Verlag ist, nämlich bei mikrotext.
„Der Mann war das Maß aller Dinge“, fasst die meist in Karlsruhe lebende Autorin die damaligen Zeiten im Gespräch mit ntv.de zusammen. Sie spricht von einer patriarchalischen Gesellschaft – mit Frauen in einer Rolle von Jungfrauen bis zur Ehe und jungen Männern, „die Erfahrungen sammeln dürfen“. Gleichzeitig steckten von der Film- und Medienindustrie entwickelte Frauenbilder sie und ihre Altersgenossinnen in ein „Korsett der Künstlichkeit“. Im Roman explizit benannt werden Brigitte Bardot, Gina Lollobrigida und Sophia Loren. Wenn Conrad an ihre 13-jährige Enkelin denkt, konstatiert sie aber: „Ihre Welt ist ja noch viel schlimmer inzwischen.“ Sie denkt etwa an Modeshows mit dürren Mannequins.
In einer Welt, in der viele Erwartungen an Frauen herangetragen werden, wächst die Romanprotagonistin Dora auf. Mit all ihrer Lockerheit und Lebensfreude. Aber auch mit einem Rachegedanken für all die Erniedrigungen, die sie täglich erlebt. Und auch mit all den Trieben des jungen Erwachsenenalters. In einem Mann brechen sich all diese Gefühle. Dora himmelt ihren Musiklehrer an und nähert sich ihm erstmals auf einem Klassenfest, fordert ihn gar zu einem Tanz auf. „Lange vor dem Trinken der Bowle, vermutlich noch vor dem Klassenfest, hatte sich der Gedanke einer Verführung [bei Dora] festgesetzt. Kein Gedanke, eher ein Drang, eine anarchische vage Idee.“
Doch aus der angedachten Verführung entwickelt sich ein Verhältnis, dessen Konsequenzen und Komplikationen, die im Verlauf des Romans auftreten, Dora natürlich noch nicht überblicken kann. Es ist auch nicht ihre Aufgabe, diese zu überblicken. Der Musiklehrer hingegen scheint sich möglicher Konsequenzen bewusst, entscheidet sich aber zum Verhältnis mit Dora und damit zu etwas, was man damals „Unzucht mit Abhängigen“ genannt hätte. Heute entspricht dies dem sexuellen Missbrauch einer Schutzbefohlenen. Dieser steht im Zentrum des Buches.
Für den Lehrer Wein, für sie Sprudel
Trotz der Ernsthaftigkeit des Sujets gelingt der Autorin der Balanceakt zwischen Unterhaltung und hoher Literatur. Sie lässt einen in bewegenden Szenen an Emotionen der Protagonistinnen und Protagonisten teilhaben und behandelt gleichzeitig Fragen, die sich heute weiterhin etwa in der Me-Too-Bewegung stellen. Dabei werden Situationen sehr fein geschildert, etwa als Dora ihren Lehrer das erste Mal zu Hause aufsucht, Hilfe bei ihm ersucht. Er lässt sie ein und kreiert eine Situation der Nähe, lässt aber doch einen gewissen Abstand, indem er ihr nur Sprudel ausschenkt.
„Er kommt mit zwei Weingläsern zurück, einer Flasche Sprudel und einer Flasche Rotwein. Den Bademantel hat er gegen einen blauen Trainingsanzug getauscht. Das Schütten des Sprudels in eines der Weingläser. Das Öffnen der Rotweinflasche. Das Plopp des Korkens. Es lässt mich zusammenfahren, was mache ich hier? Das Schütten des Rotweins in das andere Weinglas. Das Klingen der aneinanderstoßenden Gläser. Auf das Du können wir nicht mehr anstoßen, denke ich, schade, kein Kuss.“
Etwas später fordert sie Wein ein. Und noch etwas später ist ihre Hand in seiner Hose. „Zunächst ist er überrascht, dann gibt er nach. Gibt sich meiner Hand hin.“
Mit Sicherheit wird es, sollte sich Conrads Roman gut verkaufen, auch zu diesen Passagen etwa in den sozialen Medien ein sehr aufgefächertes Meinungsbild geben, was Fragen der Schuld angeht. Die Geschichte passt also sehr gut in die heutige Zeit, in der „Victim Blaming“ weit oben auf der Tagesordnung steht.
Szenen einer Nachkriegs-Ehe
Ernste Themen scheinen Conrad zu liegen. Bereits vor „Schneeflocken wie Feuer“ veröffentlichte sie mehrere Romane selbst unter einem Pseudonym, darunter „Bloßlegung“, in dem es um die Vergewaltigung eines Mannes geht. Die Verhandlung psychologischer Ausnahmezustände erscheint als Stärke in Conrads Schreiben, die eine Karriere als Lehrerin wie in der Wissenschaft im Bereich der Kognitionspsychologie hinter sich hat. Dies zeigt sich etwa in der tief berührenden Nacherzählung der schwierigen Ehe von Doras Eltern. In einer Szene wird beschrieben, wie es zu einer großen Narbe auf dem Oberschenkel des Vaters kam, als dieser während des Krieges in einem Lazarett lag. Und wie die Mutter darauf reagiert.
„Um nicht weiter kämpfen zu müssen, hat er sich die Wunde immer wieder aufgekratzt. Warum hätte er sich für ein Regime einsetzen sollen, gegen das er schon lange vor Beginn des Krieges war? ‚Das ist doch feige‘, sagt meine Mutter, während ich sie massiere und sie mir zum tausendsten Mal von ihrer Flucht [aus Niederschlesien] erzählt.“
Und später: „Das Wort ‚aufgekratzt‘ benutzte meine Mutter fast hämisch, wenn sie davon erzählte. Mein Vater erzählte davon nichts. Er hätte sich geschämt.“
Männer sind bei Conrad nicht nur Täter – im Gegenteil. Ihre Protagonistin Dora hat ein großes Empathievermögen für Männer. Ihr Vater kommt im Großen und Ganzen besser weg als die Mutter, als viele Mütter, die ihre Töchter so erziehen, dass sie Männern gefallen zu haben. Dora reflektiert die Schuld des Musiklehrers, auch wenn sie das natürlich gar nicht müsste. Insgesamt beeindruckend sind die Schilderungen einer sich in emotionaler Schockstarre befindlichen deutschen Nachkriegsgesellschaft. Dabei sind die familiären und gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie im Roman vorkommen, an das eigene Leben der Autorin angelehnt. Sie seien autofiktional, erklärt Conrad im Gespräch mit ntv.de.
Insgesamt gesehen hat Conrad hier und da aber etwas viel in das Buch gepackt: Passagen, die auf feministische Bewegungen von den 1970er Jahren bis heute blicken, stehen neben Schilderungen einer mittlerweile digitalen Welt, in denen YouTube und Twitter ihren Platz haben. Es geht um das Frausein, um das Aufwachsen in einer Familie von Vertriebenen, es geht um deutsche Schuld, um Hitler und um die Eigenheiten eines verschlafenen Nestes im Oberharz – und das auf weniger als 290 Romanseiten.
Man möchte es dem Roman aber gar nicht ankreiden. Denn um die Nacherzählung des vorletzten Schuljahrs von Dora legt sich eine Nebenerzählung der alten Frau Dora, die in ihre Heimat zurückkehrt für ein Klassentreffen. Diese klammerartige Erzählung gelingt – abgesehen eben von einigen überfrachteten Stellen – wiederum sehr gut. So wird das Auseinanderdriften und Zueinanderhalten in Beziehungen klar, der Fluss von Gedanken und Erinnerungen, sowie die Genese eines Menschenlebens – und hier eines weiblichen unter schwierigen Umständen.
Johanna Bonengel gibt im Veranstaltungsheft Groschenheft einen enthusiastischen Buchtipp in Form einer Rezension, die zu meiner Freude auch Ironie und Schmerzen auf der Metaebene des Romans bemerkt:
27. Oktober 2023
Elfi Conrads Roman begeistert seit dem Erscheinen Leserinnen und Leser – in großer Einhelligkeit. Das ist ein seltenes Phänomen.
Ein Klassentreffen, rund 60 Jahre nach dem Schulabschluss, eröffnet Elfi Conrads autofiktionales Erinnerungsbuch: „Was war das“, so fragt sich Dora, die Ich-Erzählerin, „für eine unselige Sitte, Fotos der Schulzeit zu zeigen, inzwischen digitalisiert und als JPGs auf einem Computer präsentiert!“ Das, was sie, die fast Achtzigjährige, auf den Fotos sieht, löst Erinnerungen an das Leben als 17-Jährige aus. An das Aufwachsen in einer Kleinstadt im Harz der 1960er Jahre und an eine Epoche, in der die Strukturen des Nationalsozialismus noch sicht- und spürbar und die Rechte von Frauen kein Thema sind. Aus einer beinahe unterkühlten Distanz heraus schaut die knapp 80-jährige Autorin ihrem jungen Ich beim Erwachsenwerden zu. Nicht ohne Ironie, aber auch nicht ohne Schmerzen.
Elfi Conrad wurde 1944 geboren. Die Autorin, die mit der Ich-Erzählerin Dora eine symbiotische Einheit bildet, wurde in eine Familie von Vertriebenen geboren, mit einer fanatischen Hitler-Anhängerin als Mutter und einem jähzornigen, brüllenden Vater. Die Umgebung ist höchst konservativ, prüde und vor allem patriarchalisch geprägt. Dora reflektiert den Prozess des Erwachsenwerdens. „Die, die von ihrem Vater dazu erzogen worden ist, niemals Angst zu haben, die an Selbstüberschätzung leidet, die aber auch dazu erzogen wurde, immer zu gehorchen, hat sich endlich widersetzt.“ „Innerlich verfügten wir über eine ausgeklügelte Raffinesse, uns in Szene zu setzen. Und ich war in dieser Hinsicht skrupellos.“
Dora erzählt, dass die Mehrheit der Lehrer Mädchen „als zukünftige Haushalts- und Muttertiere“ sah. Mit ihrem Deutschlehrer streitet sie sich darüber, ob das Gretchen in Goethes Faust wirklich „Fräulein“ genannt werden muss; heimlich bemitleidet sie die Frau des Lehrers dafür, mit einem derartigen Jammerlappen verheiratet sein zu müssen.
Dora beherrscht ihre Rolle. Sie funktioniert. Sie macht alles, ohne viel zu murren: sich auf das Abitur vorbereiten, die mental ausgelaugte Mutter abends massieren, die kleine Schwester ins Bett bringen, dem Vater die Brote schmieren.
Und dazwischen ist es ihr wichtig, eine selbstbestimmte Frau zu werden, ihre Energie und ihren Freiheitswillen auszuleben, aber auch als Frau begehrt zu werden wie Brigitte Bardot, Gina Lollobrigida und Sophia Loren.
Und in dem Bemühen, dieses Spannungsfeld in den Griff zu bekommen, wird sie sehr aktiv: Sie verführt – „ein Drang, eine anarchische vage Idee“ – ihren Musiklehrer. Oder verführt er sie? Auf die Schuldfrage gibt die Autorin keine Antwort. Die „Unzucht mit Abhängigen“, wie der sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen heute genannt wird, steht im Zentrum des Buches.
Trotz dieser gewichtigen Themen hält Elfi Conrad die Balance zwischen Ernsthaftigkeit, Unterhaltung und anspruchsvoller Literatur. Die erzählten Szenen leben! Sie erreichen die Leserinnen und Leser emotional ganz direkt, aber sie lassen auch viel Raum zu reflektieren.
Die Autorin Elfi Conrad schrieb bereits vor dem neuen Erinnerungsbuch unter dem Pseudonym Phil Mira Romane, die psychologische Ausnahmezustände spannend und intensiv erzählen. Elfi Conrads Weltbild ist nicht einseitig, was das Geschlechterverhältnis angeht. Sie hat ein großes Empathievermögen für Frauen und Männer.
Elfi Conrads „Schneeflocken wie Feuer“ muss man einfach lesen!
In egotrip, dem Online-Magazine für Reisen, Theater, Konzert, Lesen und Hören hat Elke
Trost eine ausführliche und auf die Feinheiten des Romans eingehende Rezension vorgelegt:
Elfi Conrad: „Schneeflocken wie Feuer“
Der 2023 erschienene Roman „Schneeflocken wie Feuer“ von Elfi Conrad taucht tief ein in die 60er Jahre der Bundesrepublik. Die fast 80-jährige Dora schaut anlässlich eines Klassentreffens zurück auf sich selbst als Siebzehnjährige, die in einem Provinzort im Harz aufwächst.
Nach einem Englandaufenthalt während eines Schüleraustauschs ist ihr ganzes Streben, der Enge ihrer Lebensumwelt mit ihrer Moral und ihren engen Normen zu entfliehen. Sie will leben und sich selbst als Frau erfahren, ohne wirklich zu wissen, was sie damit meint.
So sieht sich die zurückblickende Dora Rock `n Roll tanzen, den Freundinnen den in England gelernten Twist beibringen und schließlich auf einem Fest in der 12. Klasse den jungen Musiklehrer anbaggern. Eigentlich ist es nur eine Wette, dass sie sich das eher traut als die anderen Mädchen. Dass daraus ein neuer Erfahrungsraum der eigenen Sexualität entstehen wird, ist ihr noch nicht bewusst. Der 29-jährige Musiklehrer ist für sie ein richtiger Mann im Gegensatz zu ihren unreifen Mitschülern, deren Zuneigung sie aber sehr wohl zu nutzen weiß. Anders als die übrigen Lehrer inszeniert sich dieser Lehrer als jugendlicher Rebell mit Jeans, aufgekrempeltem Hemd, Stiefeln und längeren Haaren. Er beeindruckt die Mädchen zudem mit seinem Gitarrenspiel. Dass er neben dem Beruf noch in einer Rockband spielt, macht ihn zusätzlich attraktiv.
Mit Erstaunen registriert die Erzählerin, wie sie als Mädchen alle darauf getrimmt waren, dem Mann zu gefallen, wie sie diese Rolle ohne Frage angenommen haben. Man stylte sich möglichst verführerisch, die Augen schwarz geschminkt, mit weitem Rock, Petticoat aus Tüll, mit enger Taille und natürlich „Stöckelschuhen“, die – so der Kommentar der alten Dora – noch nicht „High Heels“ hießen.
Aus der Lebenssituation der 17-jährigen Dora entwickelt sich das Zeitkolorit der 60er Jahre, wie es jede und jeder dieser Generation wiedererkennt. Auf Schritt und Tritt sagt sich die lesende Zeitgenossin von Dora: „Ja, das stimmt, so war es.“ Insbesondere betrifft das die Frauenrolle. „Emanzipation“ war noch ein Fremdwort. Für Doras Mutter ist klar, dass Frauen nie das erreichen können, was Männer erreichen können, obwohl sie selbst seinerzeit auf einem Jungengymnasium ein hervorragendes Abitur mit Schwerpunkt Naturwissenschaft abgelegt hat. Sie wird es Zeit ihres Lebens nicht verwinden, dass sie wegen des Krieges, insbesondere aber wegen der frühen Schwangerschaft, nicht studieren konnte.
Die Mutter zieht sich in eine ewige Krankheit zurück. Der Vater, ein glückloser Erfinder, versucht seine Erfolglosigkeit durch autoritäre und auch brutale Dominanz in der Familie zu kompensieren. Dazwischen steht Dora, die den Haushalt managen muss, sich um die Mutter wie auch um die kleine Schwester kümmern muss, dazu kommen die schulischen Anforderungen.
Aus den äußeren eingeschränkten Lebensbedingungen – die Familie lebt beengt in einer Hinterhofwohnung – entsteht Doras Lebenshunger, der gerade angesichts der verklemmten Sexualmoral der Zeit nach Durchbrechen dieser Einengung strebt.
Elfi Conrad gelingt es, diese Spannung zwischen der Erfahrung der fast 80-jährigen und der unbedarften, aber dennoch schon rebellischen 17-jährigen herzustellen. Erst durch die 68er Bewegung und dann die Frauenbewegung der 70er lernt Dora Autorinnen wie Simone de Beauvoir und Kate Millet kennen und entwickelt, wie zum Glück viele Frauen ihrer Generation, ein neues Selbstverständnis als Frau.
Der „Duft der weiten Welt“, so eine damals sehr bekannte Werbung der Zigarettenmarke Peter Stuyvesant, zieht schließlich mit der neuen Musik auch in den Harz ein. Nach Cornelia Froboess und den gängigen Schnulzen sind Rock `n Roll, Twist und schließlich die Beatles Vorzeichen einer Zeitenwende, die auch die Jugend im Harz spürt.
Elfi Conrad versäumt es nicht, politische Ereignisse der 60er Jahre mit einzubeziehen: Fidel Castro übernimmt die Macht in Kuba, in Tibet kommt es zum Volksaufstand gegen China, in der UN werden die Kinderrechte verabschiedet. Das alles geht an Dora vorbei, zu sehr ist sie mit ihrer Rolle als junge Frau in der Familie und im Freundeskreis beschäftigt.
In Deutschland gibt es tatsächlich ein neues Gleichstellungsgesetz, aber über ihre Berufstätigkeit dürfen Ehefrauen dem Gesetz nach immer noch nicht selbst entscheiden. Stattdessen gilt immer noch das Gesetz von 1958, das bestimmt: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung.“ Immer noch entsetzt ist die alte Dora, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung davon nichts wusste. Hätte sie das geahnt, hätte sie nicht geheiratet. Das ging wohl den meisten jungen Frauen damals so, auch mir selbst. Diese gesetzliche Bestimmung wurde erst 1977 aufgehoben!
Es ist ein großes Verdienst von Elfi Conrad, diese Jahre noch einmal Revue passieren zu lassen. Amüsant lesen sich ihre Hinweise auf den Sprachwandel: Wie viele der für uns gängigen Ausdrücke werden heute gar nicht mehr benutzt! Für ihre Zeitgenossinnen bedeutet das ein Wiedererkennen der eigenen Jugend, insbesondere wenn sie ebenfalls in der Provinz stattfand. Bei Elfi Conrad, wie wohl auch bei uns Leserinnen, ist ein gewisser Stolz nicht zu übersehen, dass wir einen weiten Weg gegangen sind und dass wir zu der Generation gehören, die der neuen Frauenbewegung den Anstoß gegeben hat.
So wäre der Roman auch den jüngeren Frauen – und natürlich auch Männern – zu empfehlen, wenn sie mehr darüber wissen wollen, woher ihre Mütter und Großmütter gekommen sind. Die jüngere Generation hat häufig gar keine Vorstellung davon, wie lange bei uns die rechtliche Situation von Frauen eingeschränkt war. Darüber in diesem Roman mehr zu erfahren, kann zu einem besseren Verständnis für die Eltern- und Großeltern-Generation führen.
Die Belastungen für ein junges Mädchen wie Dora sind nach unseren heutigen Maßstäben sehr hoch, während die Mutter in die Krankheit flieht und damit alle Rollenvorschriften für sich über den Haufen wirft, um sie aber gleichzeitig der eigenen Tochter aufzubürden. Der Kampf um Emanzipation seit den 70er Jahren war insofern auch häufig ein Kampf mit den Müttern, die das selbst erlittene Unrecht unbewusst an ihren Töchtern rächen wollten. Doras Mutter etwa verkündet ihrer Tochter, nur Männer könnten sich selbst befriedigen und nur Männer hätten einen Höhepunkt. Damit vermittelt sie ihrer Tochter, dass sie es auch nicht besser haben werde. Glücklicherweise fügt sich Dora nicht diesem fatalistischen Ansatz.
Vielleicht ist dieser Blick in die Vergangenheit auch eine Ermutigung für junge Frauen weiterzukämpfen, heute auf anderem Niveau. Es gilt, die immer noch bestehenden Benachteiligungen für junge Frauen im Beruf und in der Familie zu überwinden. Frauen dürfen sich nicht mehr überlasten, in dem sie wie selbstverständlich die „mental load“ der Familienorganisation neben der beruflichen Belastung übernehmen. Auch hier sind Ausbruch und Aufbruch nötig, wie es damals für die Doras der 60er und 70er Jahre war.
Das Buch ist im Mikrotext Verlag erschienen. Es hat 296 Seiten und kostet 26 Euro.
Elke Trost
Eine schöne, auch die Sprache würdigende Rezension von Aline aus „aufgeblättert“, dem Literaturblog aus Hamburg:
Ein langer Weg – Eine Rezension zu Elfi Conrads „Schneeflocken wie Feuer“
5. Juli 2023 aline blättert auf:
Nicole Seifert hat in ihrem Sachbuch „Frauen Literatur“ ein Thema aufgegriffen, dass uns in der Buchblase immer noch sehr bewegt: Sichtbarkeit von Autorinnen in der zeitgenössischen Literatur und weshalb die Literatur von Frauen häufig als nicht so wichtig eingestuft wird. Oder anders: Warum wird der Kanon wesentlicher Literatur, z.B. in Schulen oder an der Uni oder in Literaturkreisen vor allem von Männern bestimmt? Und weil wir uns in einer Blase bewegen, verspüren wir einen leichten Wind der Veränderung. Die Verlagslandschaft wird weiblicher, die Stimmen werden lauter und doch ist der Weg noch weit. Messen könnten wir es an unserem eigenen Leseverhalten, das immer weiblicher geworden ist und dem wir auf unserem Blog mittlerweile eine eigene Kategorie, das Frauen lesen gewidmet haben. Aber auch über die Buchblase hinweg ist noch viel zu tun. Wie weit der Kampf der Frauen für ihre Stimme zwar schon gegangen ist, doch auch wie tief die systemische Unterdrückung der Frau immer noch ist, nicht nur in der Literatur, ist mir dennoch erst nach der Lektüre dieses Buches so richtig klar geworden.
Inhalt
In den 1960er-Jahren, im Oberharz, wächst die 17-jährige Dora auf. Sie will sich gegen die sexuellen Tabus, das veraltete Frauenbild, die patriarchalen Strukturen, die Unterdrückung ihres Vaters, die Langeweile des kleinen Dorfes, das enge Korsett ihrer Jugend zur Wehr setzten und hat sich ihren Musiklehrer als Opfer herausgesucht. Der kann ihrem jugendlichen Charme und ihrer Brigitte-Bardot-Verführungskünste nichts entgegensetzten und lässt sich umgarnen und einlullen, bis er eine Affäre mit seiner Schülerin beginnt. Das Jahr bis zum Schulabschluss ist Gegenstand der Erzählung der 80-jährigen Dora, die durch ein Klassentreffen animiert nun zurück auf diese Zeit blickt. Die Erzählung ist vielschichtig. Denn nicht nur die Verführung des Lehrers ist Gegenstand des Romans, sondern auch das Aufwachsen in der Enge eines Dorfes, die Prägung der Mutter im Zweiten Weltkrieg und ihrer Verehrung für Adolf Hitler sowie ihre Flucht aus Schlesien. Es geht genauso um einen Vater, der zwar da, aber kaum präsent und wenn dann doch mit einer strengen Hand das Haus regiert.
Rezension
Die Autorin Elfi Conrad lässt in ihrem Roman durch Rück- und Einblendungen geschickt Gegenwart und Vergangenheit miteinander verschmelzen und baut das Erzählte so immer weiter auf. Dabei widmet sie der gegenwärtigen Erzählung und der vergangenen keine eigenen Kapitel, sondern baut ihre Rück- und Vorblenden flüssig in die Kapitel ein. Dabei setzt sich die ältere Dora in meinen Augen sehr wohl kritisch mit dem jüngeren Selbst auseinander: „Die Welt in meinem Kopf werde ich erst ein paar Jahre später geraderücken können.“ (S. 73), indem sie erst Jahre später und nach dem Lesen feministischer Texte begreift, dass das jüngere Selbst – die Verführerin – eine Rolle ist, die ihr durch Sozialisation auferlegt wurde. Es ist die Ältere, die kritisch auf ihre Jugend blickt, die geprägt von der aufopferungsvollen Hilfe im Haushalt, dem Kümmern um die jüngere Tochter und dem Broteschmieren für den strengen Vater ist. Aber auch geprägt von einer Unsicherheit, wie sie nur die jungen Frauen, unabhängig von dem Jahrhundert, in dem sie aufwächst, zu verspüren mag. Es schwingt die Frage nach dem Warum und dem Sinn des Ganzen mit und sicherlich auch, wie man folgende Generationen vor ähnlichen Erfahrungen bewahren kann.
Elfi Conrad untermauert dafür ihren Roman mit Fakten, sowohl mit historischen als auch feministischen Bezug. Wie das in der BRD erst 1956 abgeschaffte Lehrerinnen-Zölibat, oder dass es einer verheirateten Frau Anfang der 1970er nicht erlaubt war, eine Waschmaschine oder ähnliches zu kaufen. Die Autorin ist selbst 80 Jahre alt, wie die Protagonistin, wodurch sich für mich eine stärkere Glaubhaftigkeit einstellt, als wie jeder Text den ich zuvor gelesen habe. Vielleicht ist es auch die Mischung aus poetischer und fast lyrischer Sprache sowie sachlicher Beschreibung, wie ich es am ehesten mit Autobiografien zu vergleichen mag, die mich anspricht.
Fazit
Ich bin froh in einer Zeit aufgewachsen zu sein, in der das gesellschaftliche Frauenbild nicht mehr hieß, Mädchen sollen tüchtig sein, gut aussehen und die perfekte Hausfrau werden. Oder bin ich es doch? Wie weit sind wir wirklich gekommen und wie tief ist die systemische Unterdrückung auch noch heute, 80 Jahre später, trotz des Frauenwahlrechts zum Beispiel. Wie sehr wurden Zugeständnisse unter dem Deckmantel der Partizipation (z.B.: Wahlrecht) gemacht, die aber nicht oder nur kaum gelebt wird? Und warum haben es Geschichten wie der von Elfi Conrad immer noch etwas schwieriger bei großen Publikumsverlagen mit Werbebudgets, wie sie eines Sebastian Fitzek würdig sind, verlegt zu werden? Es sind einmal mehr die kleinen, unabhängigen Verlage, welche vor allem die Fahne hochhalten und so wichtigen Romanen wie „Schneeflocken wie Feuer“ die Plattform bieten. Und es braucht natürlich auch (mehr) Autorinnen wie Elfi Conrad, die der Leserschaft systemische Unterschiede aufzeigen, die vielleicht längst zum Normalen in ihrem Alltag geworden sind. Und das zeigt, dass auch 80 Jahre später, der Weg noch lang ist.
Von Henrike Lehmann vom Bibliotheksdienst für mittlere Bibliotheken empfohlen:
Dora berichtet 60 Jahre später von ihrem 17-jährigen Ich. In den 1960er-Jahren, als die Gesellschaft Frauen ihr Leben vorschrieb, versuchte Dora sich dem entgegen zu lehnen. Aus Protest versuchte sie ihren Musiklehrer zu verführen. Denn vor allem die Lehrer in ihrer Schule unterstützten das Patriarchat. Der zweite Weltkrieg prägte Doras Familienleben deutlich. Ihre Mutter floh während des Kriegs aus Schlesien in den Oberharz. Zuvor hatte Doras Mutter sich im Bund deutscher Mädel engagiert und hinterfragte die Machenschaften der Nazis damals nicht. Erst später kam die Einsicht. Doras Vater war Soldat und neigte zu Aggressionen. Außerdem kümmerte sich Dora viel um ihre kleine Schwester Birte. Als Dora ihren Blick auf die Vergangenheit richtet, reflektiert sie ihr Handeln und vergleicht unter anderem die Verhaltensmuster der Gesellschaft und die Rechte der Frauen mit der Neuzeit. –
Eine Reise in die Vergangenheit, die spannend erzählt ist. Die Protagonistin wächst und steht für sich ein. Gedichte lockern das Geschriebene auf. Gern ab mittleren Bibliotheken empfohlen.
Rezensionen auf Twitter:
Katarina Hellinger (@SchlimmeHelena – Bloggerin) – 15.6.2023 (eine Analyse des Inhalts und der Form, die sehr genau trifft und mich ins Herz)
Ab heute könnt Ihr offiziell „Schneeflocken wie Feuer“ von @PhilMira11 überall kaufen. Es ist im @mkrtxt Verlag erschienen. Und ich durfte es bereits vorab lesen und einen Blurb beisteuern.
Der Roman räumt auf mit allen Klischees, die man so haben kann, über eine 80jhrg. Frau. Denn die Protagonistin hat dieses Alter, als sie rückblickend erzählt über die Jugend im Harz als Kind von Vertriebenen.
Das Ungewöhnliche daran ist, dass Elfi Conrad ebenfalls im offiziellen Rentenalter ist und die Figur nicht so weit von ihrem eigenen Alter entfernt ist, dass man ihr vorwerfen könnte, sie wüsste nicht, wovon sie schreibe. Nein im Gegenteil. Conrad weiß sehr wohl, wovon.
Und wie sie schreibt! Die Figur schenkt sich nichts. Analysiert sich und ihr Umfeld schonungslos, messerscharf und doch mit Humor und liebevoll zugleich. Das alles zusammen mit der Geschichte, wie ein Teenager seinen Lehrer verführt, ist unaushaltbar spannend und geistreich.
Ich möchte @PhilMira11 und @mkrtxt zu diesem grandiosen Buch meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Euch anderen empfehle ich von Herzen, es zu lesen. Dafür habe ich wirklich gerne meinen Namen hergegeben.
Helen Hockay: (@helenhockay) – 9.7.2023 (Begeisterung, in Worte gekleidet von einer, die sich mit Literatur auskennt)
Wow, ich glaube, ich hab noch nie ein Buch gelesen wie „Schneeflocken wie Feuer“ von @PhilMira11 Große Empfehlung!
Ich hoffe sehr, es wird als Audio Buch vertont.
Der Text hat das, was anderen Texten über eine andere Zeit oft fehlt. In der Person der Erzählerin wird das, wer man ist, an was man sich erinnert und was war vereint. Eine erzählte Geschichte kommt nicht aus ohne die Perspektive des Jetzigen und Elfi Conrad hat dies meisterhaft verknüpft, indem sie die Perspektiven selbst gibt.
Die erzählende Frau ist immer anwesend und doch taucht man in die Geschichte des Mädchens ein, das versucht ein gutes Leben zu haben, Glück, Liebe, Lust, Anerkennung und Begehrtwerden zu finden und zu geben. Die ihre Umgebung beobachtet, zu viel Verantwortung trägt, ein Kind ihrer Zeit ist.
Stark an dieser Figur ist, dass wir durch die Erzählerin wissen, dass sie sich in der Objektivierung ihrer eigenen Person nicht für immer aufhalten, sondern sich emanzipieren wird.
Am Schluss kommt noch eine andere Frage der Perspektive dazu: die der Schuld der Verführung. Die Erzählerin verortet das Gefühl der Schuld bei sich, sie kann nicht aus ihren Emotionen – wir alle kennen das. Aber der Roman gibt dem Mädchen nicht die Schuld.
Beim Lesen wird schnell klar, dass es keinen verführten Mann gibt, sondern einen, der bereitwillig das Spiel der Teenagerin mitgespielt hat. Er hat die Schuld nicht auf sich geladen. Er trug sie die ganze Zeit. Warum ist das wichtig? Wir glauben ihr zunächst, aber es sind die kleinen Handlungen, die aufhorchen lassen.
Rezensionen auf Instagram:
Frank Menden (Blogger)
Die fast 80jährige Dora fährt zu einem Klassentreffen. Ein Anlass , um aus der heutigen Sicht auf die 17jährige Dora und ihre Jugend in den 1960ern der BRD zurückzublicken. Auf das Leben mit der von chronischen Schmerzen geplagten Mutter, die ihre als Kind in der NS-Zeit aufgesogenen Ansichten immer wieder in ihre Erziehung einfließen lässt. An den Vater, der psychisch und physisch Gewalt ausübte. An die 13 Jahre jüngere Schwester, die sie abgöttisch liebt.
Und an eine Zeit, in der die Selbstbestimmung der Frau fast unmöglich war. Dora lehnt sich auf, rebelliert in dieser engen und spießigen Welt und setzt ihr sexuelles Erwachen und das Bewusstsein über ihre körperlichen Reize zielgerichtet ein.
„Schneeflocken wie Feuer“ von Elif Conrad @mikrotext ist eine schonungslose Chronik eines Frauenlebens in der damaligen Zeit. Die Ich-Erzählerin reflektiert aus der Sicht der älteren Frau ihr Leben als Jugendliche, sieht die Verbindungen aus Politik und Gesellschaft. Dabei bewegt sie sich fließend durch die verschiedenen Zeitebenen und hat mich auch dank dieser Struktur und der präzisen und manchmal lakonischen Sprache gefesselt. Dieses so ehrliche wie kluge Buch über die Befreiung der Frauen von gesellschaftlichen Zwängen, über selbstbestimmten Sex und Körpergefühl, über Liebe und die Suche nach einem Platz im Leben gehört für mich zu den großen Entdeckungen dieses Frühjahrs.
Wer Annie Ernaux schätzt, sollte sich dieses kühne und unkonventionelle Buch nicht entgehen lassen!
Andrea Martha Pilgrim (Bloggerin)
Ein Klassentreffen ist bei Dora (sind die Buchstaben vielleicht aus dem Nachnamen der Autorin gepflückt und haben sich zu Dora gefügt?) , der Protagonistin in @philmira1 ’s Roman „Schneeflocken wie Feuer“, der Auslöser für Erinnerungen an ihre Schulzeit, an sie als 17jähriges Mädchen, das so viel Verantwortung tragen, Mutter spielen musste für die eigene kranke Mutter und die kleine Schwester. Kochen, putzen, einkaufen, abends die Mutter massieren, die kleine Schwester ins Bett bringen, dem Vater Essen kochen.
Sie empfindet das von der Gesellschaft vorgegebene Frauenbild schon damals als ungerecht ,versucht aufzubegehren, entdeckt ihre Weiblichkeit und setzt sie bewusst ein. Sie verliebt sich in den von allen umschwärmten, Gitarre spielenden Musiklehrer, schreibt ihm Briefe und Gedichte, organisiert Treffen, spürt ihre Macht ihm gegenüber. Verführt sie ihn, verführt er sie? Wer trägt die Schuld? Über diese Frage zu entscheiden, bleibt uns überlassen.
Es hat mir sehr gut gefallen, wie die Autorin Vergangenheit mit Gegenwart verknüpft. Mit dem Wissen von heute erzählt und hinterfragt die 80jährige Dora ihr Tun als junge Frau. Vergleicht, verknüpft, lässt mich die Nachkriegsjahre, die 50er und 60er mit ihrer Musik, Mode und politischen Gesinnung in der Familie miterleben. Sie macht Dora’s Zwiespalt deutlich. Einerseits möchte sie sich schon damals emanzipieren (obwohl man es noch nicht so nannte), andererseits setzt sie ganz gezielt ihre weiblichen Reize ein. Die Parallelen zur Gegenwart treten überdeutlich zutage. Wird jungen Frauen doch immer noch oft ein falsches Frauenbild vermittelt.
Eigene Erinnerungen wurden bei mir angestoßen, Klassentreffen kommen mir in den Kopf, meine Schulzeit, die Erzählungen meiner fast 80jährigen Mutter, ihre Jugenderinnerungen.
Und immer wieder auch die Frage nach der Zuverlässigkeit von Erinnerungen, dem Vermischen von Ersehntem, Gewünschtem, Erlebtem. Ist man mit 80 Jahren eine andere als mit 18? In der 80jährigen Dora steckt jedenfalls noch sehr viel von der jungen Frau von damals …
Vielen Dank @philmira1 für diesen Text, der so gekonnt Fiktion und Realität verbindet und bei mir so viel angestoßen hat.
Angela Busch (Blog: literaturgarten)
Mein Leseeindruck: Dieser autobiografisch angelegte Roman, erzählt in der ICH – Form, hat mich wegen seiner tabulosen Ehrlichkeit über eine komplizierte Thematik sehr beeindruckt. Es geht um Liebe, Sex, Körpergefühl, Feminismus, Selbstverwirklichung – die Befreiung der Frauen von hemmenden gesellschaftlichen Zuständen und Zwängen der 50er und 60er Jahre.
Die junge 17jährige Dora wurde geprägt von der bedingungslosen Liebe zur Mutter, der kleinen 13 Jahre jüngeren Schwester und der ersten grossen Beziehung zu ihrem Musiklehrer Costa. Ebenso aber auch von der körperlichen und psychischen Gewalt des Vaters in der Familie, der ein absolutes Patriarchat vorlebte und verkörperte. Das Spiel von Cello und Flöte hat sie geliebt und innig in ihrer Zuneigung zu dem Lehrer und seiner Rockmusik ausgelebt. Das alles war in der damaligen Zeit etwas sehr Besonderes, denn die Gesellschaft verharrte noch im spießigen und vermufften Denken, unsinnigen Regeln in Bezug auf Frauen, ihrem freien Denken und Handeln sowie den beruflichen Möglichkeiten, wie es den männlichen Zeitgenossen zugestanden wurde.
Die Autorin schreibt in einem ansprechenden Schreibstil über die Gedanken und Handlungen der siebzehnjährigen Protagonistin Dora , sowie im Rückblick aus der Sicht der fast 80jährigen Dora auf ihr gelebtes bisheriges Frauendasein in der damaligen BRD. Sie bewertet als ältere Frau sich, ihr damaliges Verhalten kritisch und natürlich aus der Sichtweise einer Lebenserfahrung, die sie als junges Mädchen noch nicht besessen hat. Die junge Dora wollte sich dem allgemein anerkanntem Frauenbild dieser Zeit nicht unterordnen. Kinder, Kirche, Küche. Sie hat zu Recht – rebelliert. Aus den Zeilen konnte man herauslesen, dass sie sich im Laufe ihres Lebens auch von dem übermächtigen Einfluss der kranken und dominanten Mutter gelöst hat. Diese Frau wuchs in der Nazizeit auf, war beim Bund der deutschen Mädels und hat dieses Gedankengut in die Familie hineingeschleust, sei es bewusst oder unabsichtlich. So erging es sicher leider vielen Familien!
Die Autorin hat in kurzen Sätzen immer wieder politische Weltereignisse und Vergleiche zu heutigen gängigen und allgemeinen Sichtweisen unserer Gesellschaft in ihre Erzählung eingebunden, was mich persönlich etwas ermüdet und genervt hat. Für die jüngere Generation sind diese Hinweise bestimmt wichtig und sehr informativ, denn so wurde das Zeit- und Lebensgefühl von damals bunt und lebendig zum besseren Verstehen in den Hintergrund des Romans gestellt.
Sehr gefallen haben mir poetische Passagen, die immer wieder lose eingestreut wurden, wie zum Beispiel auf Seite 155 !
Zitat Seite 155: „Plötzlich der See vor uns. Gläsern. Ein Schimmern.Weißgeränderte Wolken und tiefgrüne Fichten, die sich spiegelnd einfraßen in dunkles Blau. Leichter Wind, der das Gras auffächerte. Bordüren aus weißen Federn. Vogelrufe zwischen Zweigen. Sirren von Insekten. Unser Blick nach oben bis in die Wipfel, die in lichtes Blau vorstießen. Julisonne, die durch Bäume brach. Heiße Luftschichten um uns, sich festsaugend an unserer Haut.“
Insgesamt hat mich das Buch berührt und an eigene positive und negative Erlebnisse aus meiner Kindheit in den 60er Jahren erinnert.
Charlotte Sinha (eine germanistisch haarfeine und präzise Rezension, die trotz ihrer Kürze auf beeindruckende Weise alles Entscheidende in den Blick nimmt)
5,0 von 5 Sternen Aufwachsen in den frühen 1960ern: Rebellion gegen spießige Enge und soziale Kälte. Rezension aus Deutschland vom 20. Juni 2023
Was für ein Roman! Ein ganzer Bilderbogen, dabei sparsam erzählt, geradezu lakonisch gelegentlich, und dennoch das pralle Leben; seine Schönheit, seine Schrecken: Alles steht der Leserin, dem Leser lebendig vor Augen.
Die Ich-Erzählerin ist eine schonungslose Chronistin ihrer selbst und der Gesellschaft, deren Produkt sie ist; beides ist unauflösbar miteinander verflochten und wird dennoch – auch in der Retrospektive – wertungsfrei dargestellt: So war es. So ist es.
Teil der großartigen Komposition ist die Leichtfüßigkeit, mit der sich die Autorin durch die Zeit bewegt, mal kurze Rückblenden hintupft, mal eine Vorausschau und das Präsens als Lupe verwendet, um Bilder näher heranzuholen.
Wer etwas über diese spießige, enge Welt von damals und über das, was diese Saat bewirkte, wissen möchte, wer die Innensicht haben will, muss es lesen. (Oder auf den Film warten; ich bin sicher, er wird kommen.)
5,0 von 5 Sternen Ein tolles Buch. Spannend. Herzzerreißend. Komisch. Sprachlich herausragend. Rezension aus Deutschland vom 19. Juni 2023 (Hingerissenheit, die alles erwähnt, was ich beabsichtigt habe, wie toll! )
Eine Jugendliche, die versucht, sich ein bisschen Freiheit und Leben zu ertrotzen in der verklemmten Welt des Nachkriegsdeutschlands, die alte Frau, die das alles erinnert, reflektiert – und dabei ohne Rücksicht auf Sentimentalitäten vorgeht.
Ein tolles Buch. Spannend. Herzzerreißend. Komisch. Sprachlich herausragend.
Ich wünsche ihm viele Leser*innen. So einen Text habe ich noch nie gelesen.
5,0 von 5 Sternen Buch des Monats Juni des NDR – so verdient! Rezension aus Deutschland vom 17. Juni 2023
Was für ein Wurf!
Ich bin hin und weg von diesem Roman. Er ist tiefsinnig, weitgreifend, poetisch und gleichzeitig scharfkantig. Dazu noch voller Humor!
Die Geschichte ist sehr gut im Klappentext zusammengefasst, die muss ich hier nicht wiederholen. Dass sich der Erzählstrang der Verführung des Musiklehrers anders als vermutet entwickelt, will ich hier nicht verraten. Das ist eine der Qualitäten des Romans.
Eine weitere Qualität ist die Erzählhaltung, sie ist wirklich bestechend! Dieser aufgefächerte Blick der Ich-Erzählerin: einerseits der raffinierte unbekümmerte der 17jährigen, andererseits der kritische emanzipierte der fast 80jhrigen.
Das gilt besonders für die patriarchalen Strukturen in Schule und Gesellschaft, mit denen das Mädchen kämpft und denen sie sich doch teilweise beugt. Zum Beispiel, indem sie das manierierte Getue der Sexikonen Anfang der 1960er nachahmt und damit die Verführung einleitet. Erhellend auch, wie diese Künstlichkeit mit der heutigen verglichen wird, die weiterhin von Profitgier beherrscht wird und die für die heutigen Jugendlichen noch viel krassere Zustände und Vorbilder bereithält: Modelshows, plastische Operationen, Pornos.
Interessant und teilweise erschreckend bzw. traurig die Erzählungen und Ereignisse rund um die Mutter des Mädchens, die als Geflüchtete der NS-Zeit nachhängt, obwohl sie weiß, dass das Regime verbrecherisch war und sie nur sein Spielball.
Schließlich gibt die Rahmenerzählung erfrischende Einblicke in das Leben einer 80jährigen, deren Begehren sich kaum von dem einer 17jährigen unterscheidet, und damit mit einigen Vorurteilen aufräumt.
Und diese Sprache! Sie hat einen ganz eigenen Klang und Rhythmus, nicht nur in den eingestreuten Gedichten. Man kann sich darin verlieren!
Sehr schön auch, dass sich der Verlag mikrotext, dessen Roman „Unser Deutschlandmärchen“ den Belletristikpreis der Leipziger Buchmesse gewonnen hat, sich dieses Textes angenommen hat.
Der Roman ist zu Recht Buch des Monats des NDR geworden. Große Leseempfehlung für Menschen zwischen 18 und 100 und darüber hinaus!
5,0 von 5 Sternen In einer Nacht durchgelesen! Rezension aus Deutschland vom 18. Juni 2023
Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen.
Diese Sprache, der Inhalt, die Geschichte, die Gedichte, die Figuren. Bildhaft. Rundum ein gelungenes Buch. Ich bin begeistert von dieser schonungslosen Offenheit, dieser Selbstreflexion, diesem Gefühl für Spannug. Die Sprünge im Buch, nicht einfach jetzt und damals, sondern mal ein einziger Satz, viele einzelne Sätze die einfach so dermaßen sitzen, dass der Leser, mit einer Frage, mit seiner eigenen Vorstellung zunächst fast sitzen gelassen wird und dennoch immer eine Antwort bekommt.
Ein Buch, dass man gelesen haben muss.
Ich hoffe die Autorin schreibt weitere Bücher. Ich werde nun eines ihrer Bücher unter dem Pseudonym „Phil Mira“ lesen.